Rächende Geister
Gemurmel des Arztes angezogen. Sie lauschte ihm andachtsvoll.
Plötzlich entrang sich Yahmoses Lippen ein schwacher Seufzer.
Im Stillen begann Renisenb ebenfalls zu beten: »O Isis, rette meinen Bruder Yahmose… O Isis, lass Yahmose nicht auch noch sterben, rette ihn vor Nofrets rächendem Hass. Er hat ihr nichts getan, er ist für die Tat seines Weibes nicht verantwortlich…«
Imhotep, der immer noch zerstreut auf und ab ging, blickte auf und sah seine Tochter.
»Komm zu mir, Renisenb, mein liebes Kind.«
Sie eilte zu ihm, und er legte ihr den Arm um die Schultern.
»O Vater, was sagt man?«
Imhotep antwortete traurig: »Es heißt, dass für Yahmose Hoffnung besteht. Sobek… du weißt es wohl schon?«
»Ja, ja. Hast du uns nicht klagen gehört?«
»Er starb bei Sonnenuntergang. Sobek, mein starker, schöner Sohn…« Seine Stimme brach.
»War denn nichts mehr zu machen?«
»Man hat alles versucht. Ein Arzneitrank ließ ihn erbrechen. Kräftige Kräutersäfte wurden ihm eingeflößt. Heilige Amulette wurden ihm aufgelegt, und alle Beschwörungsgebete wurden gesprochen. Alles war vergebens. Mersu ist ein geschickter Arzt. Wenn er meinen Sohn nicht retten konnte, dann war es der Wille der Götter, dass er nicht gerettet werden sollte.«
Die Stimme des Priesterarztes erhob sich zu einem letzten Gesang. Dann kam Mersu aus dem Zimmer, er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Nun?«, forschte Imhotep begierig.
Der Arzt sagte ernst: »Durch die Gnade Isis’ wird dein Sohn am Leben bleiben. Er ist noch geschwächt, aber die Krise ist überstanden, das Gift wirkt nicht mehr, der böse Einfluss ist überwunden. Glücklicherweise hat Yahmose von dem vergifteten Wein mäßiger getrunken. Dein Sohn Sobek scheint den Becher in einem Zug geleert zu haben, vielleicht sogar mehrere Becher.«
Imhotep stöhnte.
»Da siehst du den Unterschied zwischen den beiden. Yahmose ist stets vorsichtig und enthaltsam. Der Wein war also wirklich vergiftet?«
»Daran besteht kein Zweifel, Imhotep. Meine jungen Gehilfen haben die Probe gemacht – die Tiere, denen der Rest eingeflößt wurde, sind alle mehr oder weniger schnell gestorben.«
»Aber ich habe keine schlimme Wirkung gespürt, obwohl ich kaum eine Stunde früher von demselben Wein getrunken habe.«
»Das Gift ist zweifellos später hinzugefügt worden.«
Imhotep schlug sich mit der Faust auf die andere Handfläche.
»Kein lebender Mensch würde es wagen, meine Söhne unter meinem Dach zu vergiften! Das ist unmöglich. Kein lebender Mensch, sage ich!«
Mersu beugte leicht das Haupt. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich.
»Das vermagst du am besten zu beurteilen.«
Imhotep schien zu überlegen. Dann sagte er unvermittelt: »Es geht ein Gerede, das du hören sollst.« Er befahl einem Diener: »Bring den Viehhirten her.«
Er wandte sich wieder an Mersu: »Es ist ein Junge, der nicht viel Verstand hat. Er erfasst nicht leicht, was zu ihm gesagt wird, und er ist nicht im Vollbesitz seiner Kräfte. Gleichwohl hat er Augen, recht gute Augen, und er ist meinem Sohn Yahmose sehr ergeben, der immer gütig zu ihm war und auf seine geistige Schwäche Rücksicht genommen hat.«
Der Diener kehrte zurück, er zog einen dünnen, fast schwarzhäutigen, nur mit einem Lendentuch bekleideten Jungen hinter sich her, der ängstlich um sich blickte.
»Sprich«, sagte Imhotep scharf. »Wiederhole, was du mir vorhin berichtet hast.«
Der Junge ließ den Kopf hängen und fingerte an seinem Lendentuch herum.
»Sprich!«, brüllte Imhotep.
Esa kam an ihrem Stock herbeigehumpelt, ihre kurzsichtigen Augen blinzelten.
»Du erschreckst das Kind. Hier Renisenb, gib ihm diese Jujube. So, mein Junge, nun erzähle, was du gesehen hast.«
Der Knabe blickte von einem zum anderen.
Esa half ihm: »Was hast du gestern gesehen, als du an der Hoftür vorbeikamst?«
Der Knabe schüttelte den Kopf und murmelte: »Wo ist mein Herr Yahmose?«
Der Priester sprach freundlich und würdevoll: »Es ist der Wunsch deines Herrn Yahmose, dass du uns alles erzählst.«
Das Gesicht des Jungen erhellte sich. »Mein Herr Yahmose war gut zu mir. Ich will seinem Wunsche folgen.« Dann kamen die Worte rasch von seinen Lippen, während er um sich blickte, als fürchtete er, von einem Unsichtbaren gehört zu werden: »Ich suchte den kleinen Esel, der immer Unheil anrichtet, und kam an dem großen Hoftor vorbei, und ich schaute durchs Tor auf das Haus. Auf dem Vorplatz war niemand, aber ich sah einen
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