Rächende Geister
nichts ausrichten kann. Wir müssen zusammen beratschlagen.«
Kait stieß ein kurzes Lachen aus.
»Wartet nicht zu lange! Männer bleiben sich immer gleich. Alles muss sich nach den Regeln vollziehen. Ich aber sage euch, handelt rasch, oder es wird noch mehr Tote geben unter diesem Dach.«
Sie wandte sich ab und ging fort.
»Eine großartige Frau«, murmelte Imhotep. »Ihren Kindern eine ausgezeichnete Mutter, eine pflichtgetreue Gattin, aber dem Oberhaupt des Hauses gegenüber lässt sie es manchmal an Ehrerbietung fehlen. Natürlich verzeihe ich ihr das jetzt. Wir sind alle durch den Kummer außer uns. Wir wissen kaum, was wir tun.« Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf.
»Einige von uns wissen selten, was sie tun«, bemerkte Esa.
Imhotep warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. Der Priesterarzt traf Anstalten, sich zu verabschieden, und Imhotep begab sich mit ihm auf den Vorplatz hinaus, wo er sich Anweisungen für die Behandlung des Kranken geben ließ.
Renisenb sah, dass ihre Großmutter die Stirn runzelte und einen so seltsamen Ausdruck zur Schau trug, dass sie fragte: »Was denkst du, Großmutter?«
»In diesem Haus geschehen so sonderbare Dinge, dass man denken muss.«
»Sie machen mir Angst«, sagte Renisenb schaudernd.
»Mir auch«, versetzte Esa. »Aber vielleicht nicht aus demselben Grund.« Mit schroffer Gebärde schob sie ihre Perücke zurecht.
»Aber Yahmose wird nicht sterben«, bemerkte Renisenb.
Esa nickte.
»Ja, der Arzt ist zur rechten Zeit gekommen. Mag sein, dass er ein andermal weniger Glück hat.«
»Glaubst du… glaubst du, dass sich noch mehr solche Dinge ereignen werden?«
»Meiner Meinung nach müsst ihr, du, Yahmose, Ipy und vielleicht auch Kait, beim Essen und Trinken sehr vorsichtig sein. Achtet darauf, dass ein Sklave eure Nahrung immer zuerst kostet.«
»Und du, Großmutter?«
Esa lächelte ihr sardonisches Lächeln.
»Ich bin eine alte Frau, Renisenb. Ich habe aber die besten Lebensaussichten, weil ich vorsichtiger sein werde als ihr alle.«
»Und mein Vater? Gewiss wird Nofret meinem Vater doch nichts Böses wünschen?«
»Ich weiß nicht. Ich sehe noch nicht klar. Morgen will ich noch einmal mit dem Viehhirten sprechen. An seinem Bericht war etwas…« Stirnrunzelnd brach Esa ab.
Dann humpelte sie an ihrem Stock langsam ins Frauenquartier zurück.
Renisenb begab sich zu ihrem Bruder. Er schlief, und leise ging sie wieder hinaus. Nach kurzem Zögern schritt sie zu der Tür, die in Kaits Gemach führte. Kait sang eins der Kinder in den Schlaf. Ihr Antlitz war wieder ruhig und friedlich; sie sah ganz wie sonst aus, so dass Renisenb einen Augenblick lang das Gefühl hatte, die traurigen Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden seien ein Traum gewesen.
Sie wandte sich ab und betrat ihr eigenes Zimmer. Auf einem Tisch stand unter ihren Schminksachen und Parfümkrügen das Schmuckkästchen, das Nofret gehört hatte.
Renisenb nahm es in die Hand und betrachtete es. Nofret hatte es berührt, hatte es in der Hand gehalten – es war ihr Eigentum gewesen. Wieder wurde Renisenb von einer Welle des Mitgefühls für die tote Frau ergriffen. Sicher war sie unglücklich gewesen, und deshalb hatte sie gehasst, und dieser Hass suchte Rache… o nein, o nein!
Beinahe mechanisch öffnete Renisenb das Kästchen. Darin lagen die Karneolenkette und das zerbrochene Amulett und noch etwas…
Mit klopfendem Herzen entnahm Renisenb dem Schmuckkästchen eine dreireihige Perlenkette mit goldenen Löwenanhängern…
15
Erster Monat des Sommers – 30. Tag
Ü ber den Fund des Halsbandes erschrak Renisenb sehr.
Sie folgte ihrem ersten Impuls und legte es wieder in das Kästchen, das sie fest zumachte.
Sie verbrachte dann eine schlaflose Nacht.
Am Morgen aber hatte sie sich zu dem Entschluss durchgerungen, sich einem Menschen anzuvertrauen. Sie vermochte die Last dieser bestürzenden Entdeckung nicht allein zu tragen. Sie holte das Halsband hervor und verbarg es in den Falten ihres Linnengewandes. Kaum hatte sie dies getan, da kam Henet hereingestürzt. Ihre Augen glänzten vor Vergnügen, weil sie eine Neuigkeit berichten konnte.
»Stell dir nur vor, Renisenb, wie entsetzlich! Der Viehhirte wurde heute früh draußen bei den Kornschobern schlafend gefunden, und obwohl man ihn geschüttelt und ihm ins Ohr geschrien hat, war er nicht zu wecken. Es ist, als hätte er Mohnsaft getrunken, aber wer mag ihm den Saft eingegeben haben?« Henets Hand berührte eines der
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