Raecher des Herzens
Auf der Stirn prangte ein scheußlicher Bluterguss. Inmitten der bläulich verfärbten Beule klaffte eine Platzwunde, aus der ein wenig Blut sickerte. Celina legte die zitternden Finger an die Wange des Bruders. Seine Haut fühlte sich warm an, und an seiner Kehle konnte sie einen schwachen Pulsschlag fühlen. Ihre Erleichterung war so groß, dass sie einen Augenblick lang fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren.
»Er braucht einen Arzt«, sagte Rio mit rauer Stimme.
»Ja«, antwortete Celina. Sie holte tief Luft. »Ja, und zwar schnell. Und dann muss ich Denys irgendwie nach Hause schaffen.«
Suzette berührte sie an der Schulter. »Soll ich die Kutsche holen, Mam’zelle'!«
»Soll ich nicht lieber gehen?«, fragte Olivier.
»Das ist nicht nötig.« Celinas angeheirateter Vetter trat hinzu. »Mein Wagen steht gleich um die Ecke in der Rue Royale. Von dort bis zum Stadthaus ist es nicht weit. Der Arzt kann sich im Haus sicher besser um Denys kümmern als hier auf der Straße.«
»Gehen Sie voran«, sagte Rio mit ernster Stimme. Dabei hob er Denys vom Pflaster auf. Es gelang ihm, einen Schmerzlaut zu unterdrücken. Jetzt erst sah Celina, dass Rios zerfetztes Hemd an der Schulter und auf dem Rücken von Blut getränkt war. Olivier hatte es offenbar zur selben Zeit bemerkt, denn er erstarrte. Der besorgte Gesichtsausdruck des Majordomo sagte Celina, dass sich die Stichverletzung, die von dem Duell mit Broyard herrührte, auf irgendeine Weise verschlimmert haben musste.
Olivier reichte Celina die Hand, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Doch ihr Vetter stieß den Diener unsanft beiseite und griff energisch nach ihrem Arm. »Kommen Sie«, sagte er und zog Celina auf die Füße. »Je schneller wir Denys ins Stadthaus bringen, desto besser.« Mit einer knappen Geste forderte er Rio auf, ihm zu folgen, und marschierte voran zu seiner Kutsche.
Der Wagen bot nur für vier Personen Platz. Rio legte Denys hinein und trat beiseite. Celina hatte das Gefühl, dass er noch etwas sagen wollte, aber dafür blieb keine Zeit. Vetter Plauchet schloss die Tür, gab dem Kutscher ein Kommando, und der Wagen holperte davon.
Der kurze Weg bis zum Stadthaus erschien Celina unendlich lang. Menschen und Fuhrwerke drängten sich auf den Straßen, denn man bereitete sich vor, zu fliehen, falls sich das Feuer ausbreitete. Die Pferde waren nervös und nur schwer zu bändigen. Noch dazu musste der Kutscher sie oft ganz anhalten, weil es einfach nicht weiterging. Denys wurde dabei stets aufs Neue durchgeschüttelt. Sein Kopf lag in Celinas Schoß, und sie hörte ihn manchmal leise stöhnen. Vetter Plauchet wurde zunehmend ungeduldiger und schimpfte laut über jede Verzögerung. Auch Celina wurde immer ärgerlicher, denn mit ihr sprach der Mann kaum ein Wort. Tat er es doch einmal, so ließ er sie deutlich spüren, wie sehr es ihm missfiel, sie nächtens ohne ein männliches Familienmitglied auf der Straße angetroffen zu haben. Als sie das Stadthaus endlich erreicht hatten, stieg er aus und machte sich umgehend auf die Suche nach Celinas Vater. Er überließ es den beiden Frauen, den Verletzten irgendwie aus der Kutsche zu schaffen. Celina war nicht allzu traurig darüber. Sie ließ zwei Hausdiener kommen, die kurzerhand einen Fensterladen aushängten und Denys auf dieser provisorischen Bahre die Treppen hinauftrugen.
Denys war noch immer bewusstlos. Er regte sich auch nicht, als sich Tante Marie Rose, nachdem man ihn auf sein Bett gelegt hatte, hemmungslos schluchzend an seine Brust warf. Wie tot lag Denys da, während man ihm Ruß und Schmutz abwusch und der Arzt ihn untersuchte. Dieser entschied sich für einen Aderlass, um die Gefahr eines Gehirnfiebers zu mildern, das oft mit Kopfwunden einherging. Lange nachdem der Doktor sein Sherryglas geleert und die Behandlungsgebühr eingestrichen hatte, lag Denys noch immer ohnmächtig auf dem Bett. Sein Atem ging so flach, dass sich seine Brust dabei kaum hob oder senkte.
Die ganze Nacht über blieb Denys’ Zustand unverändert. Celina wich nicht von seiner Seite. Einmal bewegte er den Kopf, doch er erwachte nicht.
Celina hatte viel Zeit, ihren Bruder anzusehen. So wie er nun vor ihr lag, wirkte er unsagbar jung und verletzlich. Inzwischen trug er einen dicken Verband um den Kopf und einen ebensolchen um das verletzte Handgelenk. Noch immer ließ die Angst, den Bruder zu verlieren, Celina nicht los.
Sie gab sich die Schuld daran, dass es so weit gekommen war, dass er sich nun schon
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