Raecher des Herzens
gewaltigen eisernen Kochtopf, überquerte die Rue Royale und suchte Zuflucht unter den Arkaden des gegenüberliegenden Hauses. Ihm folgte ein ganzes Heer von Küchenhilfen, die ebenfalls Töpfe, Stapel von Tellern und Tabletts mit Gläsern und Tassen aus dem Hotel trugen. Ein rundlicher Geselle hatte einen Arm voll Flaschen gerettet und verschüttete in der Eile die Hälfte des Inhalts. Ein anderer schleppte einen gewaltigen Schinken, während ein dritter eine komplette Rinderhälfte geschultert hatte.
»Alvarez«, sagte ein älterer Gentleman in der Nähe.
Er starrte dem Mann nach, der die seltsame Parade anführte. »Ich wette zehn zu eins, dass das Feuer in seiner Küche angefangen hat.«
»Angenommen.« Sein Begleiter streckte ihm die Hand hin, um die Wette zu besiegeln. »Er könnte niemals so viel retten, wenn das Feuer von seinem Herd ausgegangen wäre. Ich glaube eher an eine defekte Gaslampe oder an eine Zigarre, die einem schlafenden Gast aus der Hand gefallen ist.«
Celina konnte sich noch ein halbes Dutzend andere Gründe vorstellen, die als Ursache einer solchen Feuersbrunst infrage kamen. Brände gehörten zu den größten Gefahren in der Stadt. Regelmäßig wurden Gesetze und Vorschriften erlassen, die solche Katastrophen verhindern sollten. Glühende Asche von einem so hohen Gebäude wie dem Hotel konnte Häuser treffen, die mehrere Straßen weit entfernt lagen. Dann brauchte es nur noch ein wenig Wind, um ein neues Feuer anzufachen. In der Vergangenheit war die Stadt schon zweimal fast völlig niedergebrannt.
Celina wusste, dass sie eigentlich nach Hause zurückkehren sollte. Sie würde im Laufe dieses Abends sicher keine Gelegenheit mehr haben, noch einmal mit Rio zu sprechen. Inzwischen war die ganze Stadt auf den Beinen, aufgeschreckt von den Glocken und dem beißenden Gestank des Feuers. Bald würden die Tante und der Vater merken, dass sie nicht in ihrem Zimmer war. Trotzdem gelang es Celina nicht, sich vom Anblick des brennenden Hotels loszureißen.
Dann sah sie, wie sich Olivier einen Weg durch die Menge bahnte. Er wandte hektisch den Kopf hin und her, bis er Rio entdeckte, rannte zu ihm und schrie ihm etwas ins Ohr.
Rio starrte seinen Diener ungläubig an. Er musste gegen den Lärm anbrüllen, deshalb hörte auch Celina, was er sagte. »Du hast die Tür aufgeschlossen?«
»Das Schloss war aufgebrochen! Und Monsieur, der junge Gentleman ... ich habe ihn gesehen. Er bewegt sich nicht.«
Rio richtete den Blick dorthin, wo die Passage hinter dicken Rauchwolken verborgen lag. Seine Lippen formten einen wilden Fluch. In höchster Eile schälte er sich aus seinem Mantel und hielt diesen in den Wasserstrahl aus einem der Feuerwehrschläuche. Als das Kleidungsstück völlig durchnässt war, klemmte Rio es sich unter den Arm und stürmte in Richtung seines Studios davon.
Olivier wollte ihn zurückhalten, doch Rio wich ihm aus und verschwand in der Menge. Sein Diener stürzte ihm nach. Rio hielt noch einmal an, legte Olivier die Hand an die Brust und stieß ihn zurück. Celina glaubte, einen Befehl zu hören, dem eine ablehnende Antwort folgte. Doch Rio zeigte auf Suzette und wiederholte seine Anweisung.
Olivier hörte auf sich zu wehren, rührte sich jedoch nicht von der Stelle, bis Rio zwischen einer Schar neugieriger Gaffer verschwunden war. Dann drehte er sich um und näherte sich Suzette und Celina.
»Wohin geht er?«, fragte Celina ihn aufgeregt. Immer wieder blickte Olivier über die Schulter in die Richtung, in die sein Herr gerannt war. »Was ist denn passiert?«
»Das Studio brennt«, antwortete Olivier widerstrebend. »Monsieur Rio will sehen, was noch zu retten ist oder was getan werden kann.«
»Aber das Gebäude ist doch sicher eineinhalb Häuserblöcke weit vom Hotel entfernt!«
Olivier blickte zu Boden und zuckte hilflos die Achseln.
»Sie müssen ihm nachlaufen! Vielleicht braucht er Hilfe.«
»Ich soll bei Ihnen bleiben, Mademoiselle. Das hat Monsieur Rio mir befohlen.«
»Dann gehen wir alle zusammen. Hier stehen wir ohnehin nur unnütz im Weg herum.« Celina raffte die Röcke und machte sich auf den Weg zum Eingang der Passage.
»Nein, Mademoiselle!« Olivier bewegte sich nicht vom Fleck.
»Warum denn nicht?«
»Ich ... Monsieur Rio würde das nicht gutheißen.«
»Mag sein, aber ich werde trotzdem nachsehen gehen.«
»Mademoiselle, so warten Sie doch.« Olivier streckte die Hand nach Celina aus, als wolle er sie zurückhalten.
»Was soll das? Wenn wir uns
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