Raecher des Herzens
habe in der Stadt noch etwas zu erledigen.«
»Ja, darauf wette ich«, nuschelte der andere Mann, lachte und bekam einen Schluckauf.
Rios Verbeugung war gerade noch als solche auszumachen. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab. Das war immer noch besser, als seinem ersten Impuls nachzugeben und dem Zechgenossen die Zähne einzuschlagen.
Er brauchte Aufschneider und wohlhabende Dandys wie diesen Mann, die glaubten, sich allerhand herausnehmen zu können, weil sie sein Studio frequentierten. Durch solche Leute verdiente er seinen Lebensunterhalt. Noch dazu warben sie mit ihrem prahlerischen Gerede für sein Etablissement. Wenn Rio die Gesellschaft dieser Männer jedoch allzu lange ertragen musste, stieß er oft an die Grenzen seiner Geduld, und im Augenblick stand ihm der Sinn wahrlich nicht nach den anzüglichen Bemerkungen eines Betrunkenen.
Rios Muskeln waren steif, in seiner Schulter hatte sich ein höllischer, klopfender Schmerz eingenistet, und er war müde. Immerhin hatte er nun an drei aufeinander folgenden Tagen schon im Morgengrauen unter den Eichen gestanden. Abgesehen davon hing, wie oft nach einem Duell, eine dunkle Wolke über ihm. Man hatte ihn nicht dazu erzogen, sein Leben damit zu vergeuden, auf andere Männer einzustechen. Nie war Rio dies bewusster als an Tagen, an denen er seinen Degen wieder einmal mit dem Blut eines anderen Menschen befleckt hatte.
Der Kampf war sehr heftig gewesen, und sein Ausgang bis zum Ende ungewiss. Mehr als einmal hatte Rio die Schwingen des Todesengels rauschen gehört. Der Stich in die Schulter hatte eigentlich seinem Herzen gegolten. Wäre sein Rivale nur ein klein wenig schneller und seine eigene Reaktion ein klein wenig verhaltener gewesen, hätte das das Ende bedeuten können.
Ein Kampf zwischen zwei nahezu ebenbürtigen Meistern war immer eine haarige Angelegenheit. Wurde er als sportliches Kräftemessen unter den Augen kundiger Beobachter ausgetragen, so konnte er zeigen, welcher Gegner über mehr Ausdauer und das größere Können verfügte und wer die gewieftesten Finten beherrschte. Doch selbst dann gab es tausend kleine Dinge, die das Ergebnis darüber hinaus beeinflussen konnten: der Stand der Sonne, die Feuchtigkeit des Grases, was die Fechter gegessen und getrunken hatten und wie sie sich fühlten. Broyard hatte gut gefochten. Doch schließlich war er zum Opfer seiner eigenen Eitelkeit geworden. Sein auf Effekte abzielender Kampstil gefiel zwar dem Publikum, war aber überaus kräftezehrend. Rio hatte seinen Gegner in dem Augenblick geschlagen, als dessen Konzentration zum ersten Mal nachließ.
Die Klinge hatte Broyards Lunge getroffen. Selbst wenn er sich von der Verletzung erholte, würde man ihn so schnell nicht wieder auf der Kampfbahn sehen. Doch der hagere Fechtmeister hatte sich seine unrühmliche Niederlage selbst zuzuschreiben. Rio war nicht stolz auf seinen Sieg.
Er fragte sich, wie Celina Vallier darüber dachte, und brannte darauf herauszufinden, ob Anerkennung oder Abscheu in ihrem Blick liegen würde, wenn er sie das nächste Mal sah. Fast während der ganzen Fahrt suchte Rio nach einem Vorwand, der es ihm erlaubte, den jungen Vallier nach Hause zu begleiten. Aber das durfte er nicht wagen. Er musste sich zurückhalten, auf den rechten Augenblick warten.
Nur dass es ein Wiedersehen mit Celina geben musste, stand für Rio außer Frage.
Die Gelegenheit dazu ergab sich in der zweiten Nacht nach dem Duell. Suzette hatte Olivier wissen lassen, dass ihre Herrin an diesem Abend zu Hause bleiben würde, was während der Saison überaus selten vorkam. Der Sonntag war Suzettes freier Tag, und Olivier wollte seiner Herzdame einen Besuch abstatten. Die Fußgängerpforte im schmiedeeisernen Hoftor sollte für den Majordomo offen stehen, und Olivier würde sie nicht hinter sich verschließen.
Rio hätte wieder in Celinas Zimmer einsteigen können, doch diese Route besaß ihre Tücken. Zu leicht konnte man ihn von der Straße aus entdecken oder von einem der gegenüberliegenden Häuser aus beobachten. Hinzu kam noch die Gefahr, von jemandem gehört oder überrascht zu werden. Rio ging es dabei weniger um sich selbst als um Celina. Schon auf dem Maskenball hätte er sie mit seinem Eingreifen um ein Haar kompromittiert.
Um Mitternacht spazierte er zunächst lässig zum Stadthaus. Er warf einen Blick durch das Tor in den Hof. Die gepflasterte Fläche lag still und friedlich im silbernen Mondlicht. Nichts rührte sich in den Schatten der großen
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