Raecher des Herzens
geschieht? Oder erträgst du nur den Gedanken nicht, dass noch einmal einem Familienmitglied etwas zugestoßen sein könnte?«
Schweigend hob er den Blick. Celina hoffte, dass er das Mitgefühl, das sie für ihn empfand, in ihren Augen lesen konnte. Als er sich wieder seiner Zeitung zuwandte, verließ sie still und würdevoll den Raum.
Zwölftes Kapitel
Rio hatte selten eine weniger inspirierende Abend-Unterhaltung erlebt. Die zweite Sopranistin der Operntruppe, die derzeit im Theatre d’Orleans gastierte, gab einige Arien zum Besten. Das ungeheure Tempo, in dem sie durch die Lieder hetzte, ließ nur den Schluss zu, dass sie das Dinner kaum erwarten konnte. Das Ensemble aus Klavier, Violine, Oboe und Horn, das sie begleitete, wirkte ähnlich lustlos.
Jüngere Gentlemen waren kaum zugegen. Sie wohnten offenbar lieber einem öffentlichen Boxkampf in der Arena hinter der Börse bei. Während einer Pause zwischen den Arien steckten die älteren Damen die Köpfe zusammen und tratschten. Einige jüngere Matronen unterhielten sich ebenfalls angeregt, andere zogen sich zurück, um ihre Säuglinge zu stillen. Die älteren Männer diskutierten über Politik und darüber, was auf ihren Plantagen am besten gedieh, oder sie begaben sich zum Rauchen nach draußen. Diese Leute schienen sich prächtig zu unterhalten, während Rio vor Langeweile beinahe umkam.
Das mochte daran liegen, dass er die Soiree nur von einem heimlichen Versteck aus verfolgte, oder daran, dass die Szenen, die sich im Haus abspielten, ihm allzu vertraut vorkamen. Sie erinnerten ihn an ähnliche Abende, die er in Barcelona erlebt hatte. Selbst der
schwere Geruch des Weines, das süßliche Aroma des Orangenblütenwassers und der Anblick weißer Kamelienblüten in den kunstvollen Hochfrisuren der Damen waren ihm noch aus jenen Tagen vertraut. Aber anders als sonst fühlte sich Rio diesmal nicht wie ein Ausgestoßener.
Der Grund dafür war die Frau in dem blassblauen Seidenkleid, dessen volle Röcke sich wie wogende Wellen um den Stuhl kräuselten, auf dem sie saß. Das Licht der Kronleuchter ließ die samtige Haut ihrer Schultern wie Perlmut schimmern. Im Übrigen gelang es ihr nicht recht, ihre Anspannung zu verbergen. Seit ihrer Ankunft war sie nur ein einziges Mal aufgestanden. Sie hatte mit ihrer Tante die Plätze getauscht, damit sich diese besser mit der Dame unterhalten konnte, die ihnen gegenüber am Tisch saß. Durchs Fenster beobachtete Rio, wie die Schöne in dem Seidenkleid mühsam lächelte, den Blick nervös durch den Raum schweifen ließ und gelegentlich mit eckigen Bewegungen ihren Fächer öffnete. Mitleid regte sich in seiner Brust, doch gleichzeitig empfand er tiefe Ungeduld. Schon seit einer Stunde versuchte er sie mit der Kraft seiner Gedanken dazu zu veranlassen, in den Garten hinauszugehen und ein wenig frische Luft zu schnappen.
Andere Gäste unterhielten sich auf der Veranda oder schlenderten die weißen, mit zerstoßenen Austernschalen bestreuten Pfade entlang, welche die gepflegte Gartenanlage mit den zierlichen Hecken und den verschwiegenen Lauben durchzogen. Celina schien es nicht ins Freie zu ziehen. Dabei hatte Rio angenommen, sich hinter dem herrschaftlichen Haus am Rande des Vieux Carre auf die Lauer zu legen, wäre die beste Möglichkeit, ans Ziel zu gelangen.
Rio überlegte, ob er es wagen sollte, ins Haus zu gehen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Schließlich schlich er zum Lieferanteneingang an der Küche und drückte sich dort so lange herum, bis ein Diener mit einer Schüssel voller Essensreste erschien. Eine Münze wechselte den Besitzer. Dann erklomm Rio die Gartenmauer und ließ sich geräuschlos in eine große Laube aus dichtem Buschwerk hinabgleiten, in der sich ein verschwiegenes Sommerhaus verbarg.
Als Celina endlich den Pfad entlangkam, erschien sie Rio wie eine Vision aus einem Fiebertraum. Sie war von so ätherischer Schönheit, bewegte sich mit solcher Grazie, dass sie zu schweben schien. Während er sie dabei beobachtete, wie sie die Stufen zur Laube emporstieg, verspürte er ein Sehnen, das nur wenig mit der hitzigen Reaktion seines Körpers auf ihre Anwesenheit zu tun hatte. Rio wusste nicht warum, aber Celina Vallier stand längst für alles, was er verloren hatte und wohl niemals zurückerlangen würde. Sie stand für das, was er vielleicht berühren, aber nie mehr besitzen konnte.
Der Gedanke war zu quälend, als dass er ihn weiter verfolgen wollte. Nur Zorn und Ärger halfen Rio, den
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