Raecher des Herzens
zurück.
Tante Marie Rose erwartete sie mit Tränen in den Augen und mit geröteten Wangen. Sie drückte sich das Taschentuch an den Mund. »Oh chere«, hauchte sie. »Unserem Din-Din wird doch nichts ... er wird doch nicht etwa ...«
»Ich weiß es nicht«, sagte Celina schnell. Sie wollte den schrecklichen Gedanken nicht ausgesprochen hören.
»Hippolyte sagte, Denys wollte zu diesem unsäglichen Fechtstudio. Was, wenn er dort ankam, es aber nie mehr verlassen hat?«
»Ich weiß es nicht.«
»Fechten ist ein so gefährlicher Zeitvertreib, selbst mit stumpfen Waffen! Hältst du es für möglich, dass de Silva ihn ...«
»Ich weiß es nicht!«, schrie Celina.
»Es gibt keinen Grund, laut zu werden«, sagte die Tante vorwurfsvoll. »Ich habe nur überlegt, was geschehen sein könnte.«
»Ich weiß«, flüsterte Celina. »Ich weiß.«
Sie beschlossen, auf ihre übliche Besuchsrunde zu verzichten. Tante Marie Rose brachte nicht die nötige Energie dafür auf, und Celina wollte auf gar keinen Fall aus dem Haus sein, wenn eine Nachricht von Denys kam. Dennoch versuchten beide Frauen so zu tun, als sei dies ein ganz normaler Tag. Tante Marie Rose ließ sich im Salon nieder, wo sie an einer Abendtasche aus lavendelfarbener Seide, schwarzem Netzgewebe und stählernen Perlenverzierungen arbeitete. Celina besprach mit der Köchin, wie die Mahlzeiten des Tages aussehen sollten, und ordnete an, dass der Hof von welken Blättern und von dem Schmutz befreit werden sollte, den die Kutschenräder hereingebracht hatten. Dann kam ein Wasserhändler vorbei, und sie beaufsichtigte das Füllen der großen Wasserkrüge und die anschließende Reinigung des Wassers mit Hilfe von Alaun. Die Stunden schleppten sich dahin.
Erst gegen Ende des Nachmittags kam eine Botschaft von Hippolyte. Er hatte die Hospitäler in den französischen und amerikanischen Stadtvierteln abgeklappert und Denys nirgends gefunden. Auch kein niedergelassener Arzt konnte sich an einen Patienten erinnern, auf den Denys’ Beschreibung passte. Er war nicht im Calabozo, dem alten Gefängnis aus der Zeit der Spanier, wohin man Betrunkene oder nächtliche Störenfriede brachte. Auch im neuen Gefängnis und in den Arrestzellen der Pfarrei in der Nähe des Congo Square saß Denys nicht. In keiner Bar und in keiner Spielhalle wollte man ihn gesehen haben. Offenbar hatte er auch keine der Mietdroschken benutzt, die durchs Vieux Car re rumpelten, hatte keine Fahrkarte zum Pontchartrain-See oder zu irgendeinem anderen Ort gelöst und war auch nicht auf der Metairie-Rennbahn gesehen worden. Doch Hippolyte und seine Freunde wollten die Hoffnung nicht aufgeben. Sie suchten weiter.
Die Stunden vergingen, doch Denys blieb wie vom Erdboden verschluckt. Celina starrte zeitweise so angestrengt aus dem Fenster, als könne sie ihn mit der bloßen Kraft ihrer Gedanken zurückholen. Rastlos ging sie auf und ab. Wie gern hätte sie sich selbst an der Suche beteiligt...
Wohl tausend Mal dachte sie daran, den Vater holen zu lassen. Mindestens genauso oft wollte sie zu Rio laufen und ihn um Hilfe bitten. Wenn Denys nicht an den üblichen Plätzen oder naheliegenden anderen Orten aufzufinden war, konnte er nur den dunklen Elementen zum Opfer gefallen sein, die in den engen Seitenstraßen und finsteren Gassen gewisser Viertel lauerten. Von allen Männern, die Celina kannte, traute sie Rio am ehesten zu, in dieses gefährliche Labyrinth vorzudringen und ein solches Abenteuer unversehrt zu überstehen.
Außerdem wollte sie wissen, was ihr Bruder mit ihm besprochen hatte und warum Rio das Gespräch mit Denys bei seinem nächtlichen Besuch nicht erwähnt hatte.
Es war ein Leichtes, Rio eine Nachricht zukommen zu lassen. Viel schwerer fiel es Celina, ein Treffen vorzuschlagen. Sie waren sich nichts mehr schuldig, und Celina wusste, dass ihr Wunsch nach einem Wiedersehen den Anschein erwecken würde, sie klammere sich an Rio und an das, was zwischen ihnen gewesen war. Das Treffen musste deshalb unbedingt auf neutralem Boden stattfinden. Sie würden sich vernünftig miteinander unterhalten, und weder Lust noch Leidenschaft durften dabei als störende Elemente auftreten.
Celina versuchte sich innerlich zu wappnen. Sie wollte eine sachliche Diskussion mit Rio führen und nicht seufzend in seine Arme sinken. Doch gleichzeitig drängte sich die Erinnerung an seinen starken, muskulösen Körper in ihre Gedanken. Noch einmal spürte sie, wie er sie umfing, wie seine Hände über ihre nackte Haut
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