Raecher des Herzens
aus dem Augenwinkel. »Er ist ein so lieber junge und immer so vernünftig und voller Respekt gegenüber dem Alter! Sicher ist ihm etwas Schreckliches zugestoßen. Ich spüre es genau.«
»Nein, nein, das glaube ich nicht«, sagte Hippolyte schnell.
»Oh doch, er ist in Schwierigkeiten. Vielleicht ist er unter die Räuber gefallen. Oder einer dieser schrecklichen amerikanischen Flussschiffer hat ihm aufgelauert und ihn niedergeschlagen. Womöglich liegt er irgendwo in seinem Blut, oder er ist krank geworden und kann uns keine Nachricht schicken. Wir müssen unbedingt etwas tun! Er muss gefunden werden.«
»Beruhige dich, chere Tante Marie Rose. Sicher ist er bald wieder da«, sagte Celina. Sie legte der Tante die Hand auf den Arm. Dann wandte sie sich wieder Hippolyte zu. »Marthe Desiards Bruder hat Denys in Monsieur de Silvas Studio gesehen. Er ist also dort gewesen. Hat er Ihnen denn gesagt, was er von de Silva wollte?«
»Ich dachte, er sei nur neugierig, wolle sehen, wer alles dort ist, und vielleicht selbst ein wenig üben.«
»Und Sie meinen, das war alles?«
»Was sollte er sonst im Sinn gehabt haben?«
Celina wollte lieber nicht daran denken, was ihren Bruder zu Rio geführt haben konnte. Vielleicht hatte Denys von ihrem Handel mit dem Maitre d’Armes erfahren. Vielleicht wusste er von dem nächtlichen Besuch in ihrem Zimmer und davon, dass sie Rio geradezu bedrängt hatte, ihr die Unschuld zu nehmen. Schon die Vorstellung, wie eine ernsthafte Konfrontation zwischen Denys und Rio enden konnte, ließ Celina erschauern.
»Es widerstrebt mir, Ihre Gutmütigkeit noch weiter auszunutzen, Monsieur Ducolet«, sagte sie schließlich.
»Stets zu Diensten, Mademoiselle Celina. Ich helfe Ihnen gern.«
»Sie glauben gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin. Wir müssen unverzüglich mit der Suche nach Denys beginnen, doch mein Vater ist anscheinend anderweitig beschäftigt.« Celina brauchte nicht erst deutlich zu sagen, dass für die Suchaktion nur ein Mann infrage kam. Denn viele Orte, an denen sich Denys aufhalten konnte, durfte eine junge Dame nie im Leben betreten.
»Albert wird sicher gern helfen, und mir fallen noch ein paar andere junge Männer ein, die uns unterstützen könnten. Wir durchkämmen die Stadt vom Fluss bis zum Pontchartrain-See und wieder zurück, das verspreche ich Ihnen.«
»Ich wusste, dass ich auf Sie zählen kann, Monsieur Ducolet. Ich stehe in Ihrer Schuld.«
»Das gilt auch für mich«, sagte Tante Marie Rose. Sie wedelte hilflos mit dem Taschentuch. »Aber Celina, ma chere, was wird dein Vater dazu sagen?«
»Wie meinst du das?«
»Wahrscheinlich wäre es ihm lieber, wir würden vor-her seinen Rat einholen. Was, wenn Denys nur in einer privaten Angelegenheit unterwegs ist? Wie peinlich für den guten jungen, wenn wir in der ganzen Stadt nach ihm suchen lassen und er dann ganz ahnungslos nach Hause kommt.«
Die Tante fürchtete offenbar, dass Denys bei einer Frau, vielleicht sogar bei einer Quadroone war. Auch Celina war schon auf diese Idee gekommen, aber sicher hätte ihr Bruder ihnen dann eine Nachricht geschickt.
Auch Hippolyte wusste genau, wovon die Tante gesprochen hatte. Das schloss Celina aus seiner sorgsam zur Schau getragenen Ahnungslosigkeit. Er stellte die Tasse auf den Tisch und erhob sich. »Vertrauen Sie mir, Madame. Wir werden die Sache mit äußerster Diskretion behandeln.«
Tante Marie Rose versicherte dem jungen Mann noch einmal ihre Dankbarkeit, fügte noch allerlei Ermahnungen hinzu und gab erneut ihren Bedenken Ausdruck. Celina merkte, dass Hippolyte darauf brannte, mit der Suche zu beginnen. Sie brachte ihn zur Tür und wünschte ihm Glück.
»Sie können sich auf mich verlassen«, sagte er, nahm ihre Hand und verbeugte sich. »Ich werde nicht ruhen, bis wir ihn gefunden haben oder wenigstens wissen, wo er ist.«
»Und Sie werden mich benachrichtigen, sobald es etwas Neues gibt? Ganz gleich zu welcher Stunde?«
»Naturellement. Machen Sie sich bitte nicht allzu viele Sorgen. Denys ist noch immer der Vernünftigste von uns allen. Es wird alles gut, Sie werden sehen.«
Celina dankte ihm noch einmal und sah dann zu, wie er sich von Mortimer Hut und Stock reichen ließ und mit leichten Schritten die Außentreppe hinuntereilte. Der Butler folgte ihm in gemessenerem Tempo. Gleich darauf hörte Celina die Fußgängerpforte zuschlagen. Für einen Augenblick blieb sie noch auf der Galerie stehen und starrte in die Ferne. Dann ging sie ins Speisezimmer
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