Raecher des Herzens
Schmerz zu bezwingen. Er löste sich aus dem Schatten eines schmiedeeisernen Pfeilers und verstellte Celina den Weg.
Sie fuhr zusammen und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Rio fasste sie am Arm. Im ersten Augenblick erstarrte sie. Dann trat sie so schnell auf ihn zu, dass ihre Röcke um seine Stiefel strichen.
»Endlich«, flüsterte sie. »Ich fürchtete schon, du hättest meine Nachricht nicht erhalten.«
»Sie ist angekommen. Aber ich verstehe sie nicht ganz«, antwortete er. »Du batest um einen neutralen Treffpunkt. Ist dir dieser Ort genehm?«
»Er ist perfekt. Es tut mir Leid, dass ich dich von deinen abendlichen Amüsements wegholen musste, und ich danke dir, dass du so schnell gekommen bist.«
Es war genau so, wie er erwartet hatte. Sie wollte mit ihm reden, nicht mehr. Mit einem romantischen Stelldichein hatte dieses Treffen nicht das Geringste zu tun. Es stand ihm nicht zu, sich deshalb zu beklagen. Aber es ärgerte ihn, dass sie ihn so deutlich spüren ließ, wie wenig ihr an weiteren Intimitäten lag. Abgesehen davon fand Rio es beunruhigend, dass er sich schon seit jenem Abend, an dem Celina ihn in seinen Räumlichkeiten aufgesucht hatte, nicht mehr mit einer der anderen Damen verabredet hatte, die nur allzu gern die Fensterläden ihrer Schlafgemächer für ihn offen stehen ließen. Die üblichen oberflächlichen Affären reizten ihn nicht mehr. »Ich gehe davon aus, dass es sich um etwas sehr Dringliches handelt. Sonst wärst du wohl kaum dieses Risiko eingegangen.«
Celina warf ihm einen schnellen Blick zu. Rio sah das Mondlicht in ihren Augen aufblitzen. »Es geht nicht etwa um irgendwelche Folgen unseres letzten Treffens. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen.«
»Tatsächlich nicht?«, fragte er leise.
»Nein. Es gibt wichtige Ereignisse, die das, was zwischen uns geschehen ist, in den Hintergrund gedrängt haben.«
»Das beruhigt mich ungemein«, sagte Rio trocken. Hatte er nicht genau das hören wollen? Sollte er nicht froh sein, dass die Nacht, die Celina in seinen Armen verbracht hatte, nur eine unbedeutende Episode in ihrem ereignisreichen Leben war?
»Vielleicht hast du gehört, dass Denys verschwunden ist.«
Nur mit Mühe gelang es Rio, seine Gedanken diesem neuen Gesprächsgegenstand zuzuwenden. »Ich weiß, dass ein ziemlich nervöser Gentleman, der sich Albert Lollain nannte, am Morgen in meinem Studio erschien und mich fragte, ob ich deinen Bruder gesehen hätte.«
»Und? Hattest du das?«
»Du scheinst es anzunehmen.« Rio war Celinas zweifelnder Ton nicht entgangen. »Du denkst, er könnte von meinen Besuchen bei dir erfahren haben und sie nicht gutheißen. Ich wiederum habe ihn dann vermutlich in handliche Streifen gehauen und mit diesen die Scheide meines Degens verziert.«
»Oh bitte, bitte sprich nicht so ...« Celina war blass geworden. Sie krallte die Hände in ihr Schultertuch.
»Es tut mir Leid. Ich ging von der irrigen Annahme aus, du würdest mir, da du mir deinen Körper anvertraut hast, auch in anderen Dingen vertrauen.«
Celina blieb Rio die Antwort schuldig. Vielleicht war es die Sorge um ihren Bruder, die ihr alle anderen Gedanken so schwer machte. »Du scheinst der Letzte gewesen zu sein, der ihn noch gesehen hat. Das haben mir zwei Zeugen bestätigt.«
»Bei seinem Abschied war Denys noch gesund und munter.«
»Wirklich?«
Wäre Celina ein Mann gewesen, so hätte er diese Frage als Beleidigung empfunden. Andererseits hätte dieses Gespräch dann sicherlich gar nicht stattgefunden. »Du forderst einen Beweis? Wolltest du mich deshalb treffen?«
Celina wandte sich ab und entfernte sich ein paar Schritte von Rio. Über die Schulter sagte sie: »Nein. Ich wollte dich eigentlich um Hilfe bitten.«
»Wie stellst du dir das vor?« Sie hatte sich schon einmal Hilfe suchend an ihn gewandt. Diesmal würde er genau nachdenken, bevor er ihr seine Unterstützung zusagte.
»Denys ist in Schwierigkeiten, das spüre ich. Mein Vater will es nicht glauben. Deshalb unternimmt er nichts. Die Freunde meines Bruders haben bereits erfolglos nach ihm gesucht. Aber ich glaube, in den weniger respektablen Stadtvierteln kennen sie sich nicht besonders gut aus. Ich wage nicht, sie zu bitten, sich den Gefahren auszusetzen, die dort lauern.«
»Während dich derlei Bedenken bei mir nicht zu quälen scheinen.«
»Empfindest du das als Beleidigung? Das war nicht meine Absicht. Ich glaube nur, dass du mehr von der Welt weißt als diese jungen Dandys, und
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