Rächerin der Engel
Spuren eines leichten Antidepressivums entdeckt, das ihm sein Arzt vor ein paar Monaten verschrieben hatte; Beruhigungs- oder Betäubungsmittel hatten sich jedoch nicht nachweisen lassen. Ebenso wenig ein Bluterguss, der darauf schließen ließ, dass er bewusstlos geschlagen worden war.
Also entweder hatte er mit einer auf den Kopf gerichteten Flinte dagesessen oder … was?
War jemand im Zimmer versteckt gewesen, jemand, der ebenfalls eine Waffe hatte? Vielleicht eine 22er? Und die sechs Leute, die ins Zimmer gekommen waren, hatten die denn gar nichts bemerkt?
Das konnte sich Bree nicht vorstellen. Nicht im Geringsten.
Eine Konspiration von allen sechs, um den Mord zu vertuschen?
Auch das konnte sich Bree nicht vorstellen. Warum hatte Tully sie denn angeheuert? Doch wohl, um den Mörder vor Gericht zu bringen, oder?
Bree lehnte sich seufzend zurück. »Nun, Watson, ein hübsches kleines Problem.«
Sascha gähnte, legte sich anders hin und schlief weiter.
Bree beugte sich vor und setzte sich über die Gegensprechanlage mit Ron in Verbindung. »Können Sie Eddie Chin für mich ausfindig machen?«
»Na klar.«
»Fragen Sie ihn bitte, ob ich ihn zum Essen einladen darf. Bei B. Matthew’s, so gegen sieben.«
»In Ordnung. Außerdem habe ich einen Termin mit dem Hausverwalter in der Bay Street für uns ausgemacht. Heute Nachmittag drei Uhr.«
»Für uns?«
»Wir müssen uns Gedanken über die Ausstattung des Büros machen.«
»Ach ja?«
»Ach ja.«
»Okay. Danke.«
»Außerdem hatten Sie ein paar Anrufe.«
»Nämlich?«
»Einen von einem Mr. Cullen Jameson. Und zwei von Mrs. O’Rourke.«
»Verbinden Sie mich bitte mit Tully. Jameson rufe ich später zurück.«
»Ihre Mutter hat ebenfalls angerufen.«
Bree unterdrückte ein Stöhnen.
»Und Ihre Schwester.«
»Die beiden rufe ich nach dem Lunch zurück.«
»Bleiben Sie am Apparat. Ich lege das Gespräch mit Mrs. O’Rourke auf Leitung zwei.«
Bree saß mit dem Hörer am Ohr da. Jeder, der sie durchs Fenster beobachtet hätte, hätte den Eindruck gehabt, dass sie einer regulären Kanzlei vorstand, mit richtigen Klienten und kompetenten, ganz normalen Angestellten. Wenn sie die Augen schloss, glaubte sie fast selbst daran.
»Bree?«
Die schneidende, herrische Stimme war unverkennbar. »Hallo, Tully.«
»Wo um alles in der Welt haben Sie denn diesen Assistenten her?«
»Sie meinen Ron?«
»Er hat ja eine so angenehme Stimme, Bree. Nein, angenehm ist nicht das richtige Wort. Eher gefühlvoll.«
»Engelhaft«, schlug Bree vor.
»Ja, genau! Sie müssen ihn bei Gelegenheit mal mitbringen. Haddad wäre entzückt.«
»Ron ist tatsächlich Gold wert«, erklärte Bree. »Gibt es etwas Dringendes, Tully?«
»Sie sind alle auf dem Weg hierher«, verkündete Tully. »Die Verdächtigen, meine ich. Buck und Harriet kommen heute Vormittag an und werden im Forsyth absteigen.«
Bree überlegte, ob Buck Parsalls Brüder wohl die Rechnung übernahmen. Das Forsyth war Savannahs einziges Fünfsternehotel.
»Und Cullen müsste sich inzwischen bei Ihnen gemeldet haben. Er ist im Mulberry Inn abgestiegen. Ich hab ihnen allen erzählt, dass Sie sich um die neuen Teilhaberverträge für die Shakespeare Players kümmern und alles mit ihnen durchgehen sollen.«
»Das stimmt doch gar nicht.«
»Ab sofort ist es aber so. Bei unserem letzten Treffen habe ich Ihnen ja die Vertragsentwürfe gegeben.«
Sie befanden sich in Brees Aktentasche. Sie hatte sie noch nicht gelesen. Das musste sie sofort tun.
»Diese Verträge haben Rutgers Rechtsanwälte entworfen, und ich brauche jemanden, der meine Interessen vertritt. Warum sollten Sie das nicht machen?«
»Rutgers Rechtsanwälte?«
»Rutger ist ein lieber Kerl, aber er investiert eine ganze Menge in diese Sache und will natürlich auch auf seine Kosten kommen.«
»Aber was hat denn Cullen Jameson mit den Shakespeare Players zu tun?«
»Ich nenne das Wiedergutmachung.« Offenbar drückte Brees Schweigen aus, wie verwirrt sie war, denn Tully fuhr ungehalten fort: »Ich überlasse ihm einen kleinen Anteil an der Gesellschaft. Den Parsalls ebenfalls. Warum, braucht Sie nicht zu kümmern. Jedenfalls dürfte ja wohl klar sein, dass ich Ihnen damit einen hervorragenden Vorwand an die Hand gebe, um herauszufinden, ob jemand von den dreien meinen Mann umgebracht hat.«
Aber Cullen Jameson war der einzige Verdächtige, der sich nicht am Tatort aufgehalten hatte. Bree presste die Lippen aufeinander. »Haben Sie den Parsalls
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