Rätsel des Nordens (Thenasia) (German Edition)
Stadtbevölkerung zu versorgen. Alles schien friedlich.
Nur Katzen und Hunde waren die Einzigen, die miteinander rauften. Regnir
beobachtete aus der Ferne, wie der Kamerad seines Sohnes einen kleinen Hering
vom Marktstand der Fischersfrau stibitzte und sich mit ihm davon stahl.
Gleichwohl erschien alles anders als sonst. Das helle Sonnenlicht strahlte mit
voller Wucht auf die Objekte und Personen und ließ ihre Konturen bis zur
Unschärfe verschwimmen.
Also versuchte Regnir zu
erkunden, ob der Tagesstern kräftiger als sonst leuchtete und blickte gen
Himmel. Allerdings vermochte er nicht zu finden, was er suchte. Ein Mann mit
breiten Schultern verbaute die Sicht und Regnir konnte sich bemühen, soviel er
wollte – er fand keine Möglichkeit, den kräftigen Herrn umgehen zu können.
Vielmehr wurde er durch irgendeine Macht gezwungen, sich dann zu bewegen, wenn
der Mann sich bewegte, selbst wenn er die eigenen Füße stillhielt. Regnir
wünschte sich an eine andere Stelle in Eisenhand. Er fühlte sich als Gefangener
und das Licht biss in seine Augen. Im nächsten Moment befand er sich unter dem
Dach von einem der Stände. Wie war er hierher gelangt? Er hatte doch nur ein
Mal mit der Wimper geschlagen!
Wieder versuchte er, in die Sonne
zu blicken und wieder musste er feststellen, dass dies nicht möglich war, denn
er starrte lediglich auf die provisorischen Überdachungen des Marktes. Regnir
wollte wissen, was hier vor sich ging. Er musste es herausfinden. Zu seiner
großen Überraschung aber antwortete ihm niemand, als er sich Hilfe suchend an
die Menschen wandte, die um ihn herum standen. Des Königs Stimme drang nicht zu
ihnen. Plötzlich stellte er außerdem fest, dass er stets nach oben blicken
musste, um die Gesichter der Anderen ins Auge fassen zu können. Von einigen
Menschen sah er jedoch ausschließlich den Hinterkopf. Licht stach erneut in
seine Augen. Er musste sie bedecken. Als Regnir sich mit seinen Händen schützen
wollte, bemerkte er, dass er nur Luft bewegte. Er blickte um sich und erkannte,
dass er selbst gar keinen Schatten warf …
Regnir erwachte und schlug die
Augen inmitten eines Waldes auf. Er war allein. Keine Sonne. Lediglich das
fahle, matte Mondlicht schien vereinzelt durch das Blätterdach der großen
Bäume. Er erhob sich. Seltsamerweise war sein Kopf etwa einem Fuß vom Erdboden
entfernt, obwohl er sich vorwärts bewegte. Er lief auf eine Lichtung zu, die er
aus der Ferne sehen konnte. Keine Pflanze wuchs auf ihr. Der Boden bestand aus
nacktem Stein, kalt wie die Wasser unter der Erde. Regnir drehte den Kopf und
trabte zu einem Baumstumpf, der am westlichen Rand der Lichtung stand. Sein
Stamm schien erst wenige Tage zuvor gefällt worden zu sein.
Plötzlich roch er etwas. Er hob
seine Nase in die Luft und entnahm ihr einen altvertrauten Geruch, den er trotz
intensiven Nachdenkens nicht näher zu beschreiben vermochte. Regnir wandte sich
gen Osten und erkannte in einer Distanz von neunzig Fuß eine alte Bärin von
kräftigem Wuchs, die neben ihre Jungen ruhte. Aus einem für ihn unerklärlichen
Grund begann sein Herz zu rasen. Sein Instinkt befahl ihm, abzudrehen. Die
Stimme der Natur flüsterte ihm zu, vier Meilen in südwestlicher Richtung zu
gehen, weil es die Bestimmung seiner Art wäre.
Als er die Strecke hinter sich
gebracht hatte, erreichte er eine Anhöhe, die von weißen Felsen umgeben war.
Vorsichtig schlich er an sie heran. Alles war still. Nur das Flattern der Eulen
und Fledermäuse war in der lauen Nachtluft zu vernehmen. Nachdem Regnir die
Mitte der Anhöhe betreten hatte, knackte es im Unterholz der nahestehenden
Bäume. Rote Augen schauten auf ihn und kamen näher. Vier große Wölfe traten auf
ihn zu. Kurz darauf beschnüffelte er seine Artgenossen und gemeinsam heulten
sie den Mond an …
„Regnir! Regnir!“, hörte der
König schwach aus der Ferne eine Stimme rufen. Wem sie gehörte oder woher sie
kam, wusste er nicht, allerdings war er sich sicher, sie schon oft vernommen zu
haben. Er selbst befand sich aber in einem Raum der tiefsten Dunkelheit, eine
Zelle, ummantelt von unsichtbaren Gitterstäben. Regnir konnte auf sich selbst
herabblicken. Sein Körper lag aufgebahrt auf einem rechteckigen Block aus
festem Stein. Seine Haut war bleich. Totenblass.
Von einem auf den anderen Moment
erklang wieder eine Stimme, doch dieses Mal war sie dumpf und bedrohlich. Ja,
sie ängstigte ihn, wie er sich noch nie zuvor gefürchtet hatte. Kalt war ihr
Klang. Sie schnitt in
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