Rätselhafte Umarmung
aussähe, aber die Wahrheit war, daß Addie zu jeder Tageszeit durchdrehen konnte. Es gab keine Garantie dafür, daß sie sich morgen anders verhalten würde.
Rachel sah ihn an und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Säule. Sie schlang die Arme um sich, als bewahrte sie das davor auseinanderzufallen. Innerhalb weniger Tage war ihre Welt in den Grundfesten erschüttert worden. Alle Träume, an die sie geglaubt hatte, waren verflogen. Am Fuß des Regenbogens, dem sie gefolgt war, als sie von zu Hause fortging, hatte kein Goldschatz auf sie gewartet. Und in dem Heim, in das sie zurückkehrte, lebten lauter Fremde. Der Alptraum würde bestimmt nicht enden, wenn sie morgen früh die Augen aufschlug. Er hatte erst begonnen.
»Meine Mutter verliert langsam den Verstand.« Sie sagte sich das vor, als hätte sie eben erst begriffen, was das für Addie und für ihr eigenes Leben bedeutete.
Dann sah sie durch einen Tränenschleier zu Bryan auf. Plötzlich war es egal, daß er ein Fremder war oder daß sie ihm unlautere Absichten unterstellt hatte. Tir war der Sohn einer Mutter. Er hatte irgendwo eine Familie, zu der er eines Tages zurückkehren würde. Vielleicht konnte er ein bisschen nachfühlen, was sie gerade durchmachte, und sie brauchte so dringend jemanden, der sie tröstete, und sei es für ein paar Minuten.
Als die ersten dicken Tränen durch ihre dichten Wimpern drangen, schluchzte sie: »Was soll ich denn bloß machen?«
Augenblicklich hatte Bryan sein Gelübde, sich nicht einzumischen, vergessen. Welcher Mann konnte tatenlos zusehen, wie dieses reizende Wesen gleich einer welkenden Rose verblühte? Wenn er ihr schon nicht anders helfen konnte, dann doch wenigstens mit seiner Kraft. Er nahm sie vorsichtig in die Arme, als wäre ihr Körper genauso zerbrechlich wie ihr Geist, und drückte ihre Wange an seine Brust. Ein Schluchzen, ein furchtbares, herzerweichendes Schluchzen ließ ihren Körper erbeben. Sie sah nicht stark genug aus, um so zu weinen. Er konnte ihr Schluchzen in seiner Brust spüren, und er musste schlucken.
Sie war verwundet - nicht körperlich, sondern seelisch. Sie war verwirrt, ihre Träume waren zerbrochen und die Zukunft schien verloren. All das konnte er nur zu gut nachempfinden. Er verstand auch, daß sie in den Armen gehalten werden wollte. Er verstand allerdings nicht, warum er dieses unwiderstehliche Bedürfnis spürte, sie in den Armen zu halten, aber noch während sein Gehirn versuchte, diese Frage zu klären, schlössen sich seine Arme noch fester um sie, und seine Lippen strichen über ihre Schläfe.
»Seht ... Sie sind zu müde, um noch klar denken zu können. Kommen Sie, wir finden ein Bett für Sie. Und morgen früh sehen wir weiter«, murmelte er, ohne überhaupt zu bemerken, daß er sich ihre Probleme damit zu eigen gemacht hatte.
Obwohl er ihr zuflüsterte, daß sie hineingehen sollten, machte er keine Anstalten, die Veranda zu verlassen. Er wiegte sie einfach sanft hin und her; Nebelschleier wogten um sie herum, und in der Ferne donnerten die Brecher an die Felsen. Es bereitete ihm ein eigenartiges Behagen, sie zu halten. Zum ersten Mal seit langem spürte er den Schmerz in seinem Herzen nicht mehr so stark. Er wagte nicht darüber nachzudenken, warum das so war.
Kapitel 3
Sie schlichen durch eine Hintertür ins Haus, durchquerten die große, dunkle Küche und verschwanden in einer altmodischen Anrichtekammer, wo Bryan eine Tür öffnete, die aussah, als gehörte sie zu einem hohen, in die Wand eingelassenen Schrank. Rachel folgte ihm wortlos die schmale, schmucklose Dienstbotenstiege hinauf, die sich dahinter verbarg. Von der Decke hingen Spinnweben und nackte Glühbirnen an dicken schwarzen Kabeln.
»Es tut mir leid, daß ich mich vorhin so habe gehenlassen.« fetzt, nachdem die Tränen versiegt waren, war es ihr peinlich. »Normalerweise reagiere ich nicht so.«
»Schon in Ordnung. Normalerweise wird man ja auch nicht von seiner Mutter auf die Straße gesetzt«, antwortete Bryan. »Vorsicht bei dieser Stufe. Halten Sie sich rechts. Sie ist total verrottet. Bei diesen alten Häusern muss man immer auf so was gefasst sein.«
Rachel sah den Riss in der Holzstufe und stieg ganz über sie hinweg. Sie fragte sich, was in diesem Gebäude wohl noch alles verrottet war. Sie hatte gehofft, nicht allzu viel reparieren lassen zu müssen, bevor sie das Haus wieder verkaufte. Der kümmerliche Rest ihres Geldes, das sie vor Terence hatte retten können, würde nicht lang
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