Rätselhafte Umarmung
reichen. Ihre Mutter hatte ein paar Jahre lang ein Antiquitätengeschäft geführt, und dann war da noch das Geld aus der Polizeipensionskasse, das ihr Vater hinterlassen hatte, aber sie mussten mit gewaltigen Kosten rechnen. Sie würde Addies Arztrechnungen bezahlen, Kaution für ein Appartement in San Francisco stellen und den Lebensunterhalt für sie beide bestreiten müssen. Sie hatte keine Ahnung, wie Addie in letzter Zeit mit ihrem Geld umgegangen war. Wenn Bryan Hennessy als Beispiel gelten konnte, dann hatte sie es mit beiden Händen zum Fenster hinausgeworfen.
Ein Geisterjäger. Rachel schüttelte den Kopf.
Sie traten durch eine Tür mit Wandverkleidung in den Flur auf dem ersten Stock.
»Da wären wir«, sagte Bryan leise. Er ließ ein sympathisches Lächeln aufleuchten und schob die unsichtbare Tür mit der Spitze seiner abgetretenen Mokassins zu. »Wie im Film, was?«
Rachel nahm ihre Umgebung kaum wahr. Ihre ansonsten ausgeprägte Neugier war durch die Umstände ihres Besuchs wie ausgelöscht. Vielleicht würde sie es in ein, zwei Tagen ganz interessant finden, daß es im Haus eine Geheimtreppe und Wandtäfelungen aus echtem Mahagoni gab und daß der Boden in der Eingangshalle mit importiertem Marmor gefliest war. Jetzt nahm sie all das kaum wahr. Genausowenig wie den muffigen Geruch alter Teppiche und Vorhänge. Im Augenblick brauchte sie ihre ganze Kraft, um einen Fuß vor den anderen zu setzen und Bryan Hennessy durch den Flur zu folgen.
»Messen Sie dem Empfang Ihrer Mutter heute abend nicht allzu viel Bedeutung bei«, sagte er ruhig. Er verlangsamte seinen Schritt, drehte sich zu ihr um und sah sie ernst an. In jeder Hand hielt er einen Koffer, und auf seinem ausgewaschenen blauen Hemd hatten sich dunkle, nasse Flecken von ihren Tränen gebildet. »Sie haben sie überrascht. Mit Überraschungen wird sie nicht allzu gut fertig.«
Rachel musste an Terence und an Addies Reaktion damals denken, und traurig lächelnd schob sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Nein, das wurde sie noch nie.«
»Wahrscheinlich hat sie sich morgen früh schon wieder gefasst .«
Mehr als ein müdes Lächeln brachte Rachel nicht mehr zuStande. Sie hoffte, daß sich ihre Mutter bis morgen früh wieder vollkommen gefasst hatte, aber das half ihr heute abend nicht weiter. Sie fühlte sich, als wäre ihre Seele in den Grundfesten erschüttert worden. Und wenn sie hundert Jahre alt würde, nie würde sie den flammenden Zorn in den Augen ihrer Mutter vergessen, als Addie ihr befohlen hatte, das Haus zu verlassen. Noch jetzt schoss ihr, sobald sie sich daran erinnerte, ein so unbändiger Schmerz durch die Brust, daß es ihr den Atem verschlug. Sie hatte gewusst , daß ihr Wiedersehen nicht einfach werden würde, aber keinesfalls hatte sie so eine bizarre Szene erwartet wie eben. Nicht einmal das Wissen, daß Addies irrationales Verhalten durch ihre Krankheit bewirkt wurde, war ihr ein Trost. Während Addies Raserei waren zu viele echte Gefühle zum Vorschein gekommen, als daß Rachel den Ausbruch einfach so abtun konnte.
»Sie können heute nacht mein Zimmer haben«, sagte Bryan. Er stieß mit der Schulter eine Tür auf und trat dann beiseite, um ihr den Vortritt zu lassen. »Es ist das einzige freie Bett mit einer Decke.«
»Ich kann Sie doch nicht einfach aus Ihrem Bett werfen«, wandte Rachel ein und stellte sich vor die Heizung, um die Kälte zu vertreiben, die ihr in den Knochen saß.
»Vorhin wollten Sie mich sogar aus dem Haus werfen.« Bryan lächelte sie einnehmend an, um ihr gleichfalls eines abzutrotzen. Ohne seinen Blick von ihr abzuwenden, bückte er sich und stellte die Koffer vor der Kommode ab.
Rachel schloss die Augen und seufzte. Sie verzog die Lippen ein wenig, aber das war alles. Egal, was sie versuchte - necken, streiten, was auch immer -, sie konnte irgendwie nicht mit diesem Mann umgehen. Abgesehen davon, waren auch ihre Gefühle ihm gegenüber ein einziges Chaos. Er war ein Fremder, ein Mann, der von ihrer verrückten Mutter Geld dafür nahm, daß er Geister jagte. Er war ihr Gegenspieler und schien sie nicht leiden zu können. Manchmal blödelte er hemmungslos, um im nächsten Moment wieder vollkommen ernst zu sein . Er war attraktiv und sprach Bedürfnisse in ihr an, die zu lange vernachlässigt worden waren. Er war ein mitfühlender Mensch, der ihr Trost und Hilfe anbot. Selbst wenn sie in bester Verfassung gewesen wäre, hätte sie diese Mischung verwirrt, und sie war ganz bestimmt nicht
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