Räuberdatschi: Ein Fall für Anne Loop (Piper Taschenbuch) (German Edition)
Körper vor, wie er in wenigen Sekunden gegen die Brückenbrüstung donnern würde. Er wurde von einem Brechreiz ergriffen. Schnell streckte er den Kopf durch das geöffnete Fenster und übergab sich. Als er wieder nach vorn schaute, konnte er es kaum glauben: Jorina hatte ihre schlanken langen Beine angezogen und schwebte, ja, sie schwebte über das Brückengeländer hinweg, nur Millimeter davon entfernt. Als wäre sie ein Engel, entflog die Bankräuberin ihren Jägern.
Schramm schüttelte den Kopf. Nicht wegen der gelungenen Flucht der Geiselnehmer, sondern wegen der wirren Gefühle, die ihn bewegten: Konnte er es mit seinem Berufsethos vereinbaren, dass er erleichtert war? Ehe er sich darüber klar werden konnte, piepte Kastners Handy. Eine SMS von Anne Loop.
Der Polizist las sie vor:
»Code geknackt: TIM & HANNE. MACHT 2 FLIEGER BEREIT. A8. Sepp, wir brauchen Luftüberwachung. Die wollen mit Flugzeug fliehen! Anne.«
Zu spät. Die Bankräuber Jules und Jorina flogen noch ein Stück weit die A8 entlang, dann überquerten sie die Alpen und tauchten in Italien unter. Allerdings ohne das Geld. Das rissen sich Dieter Gräber und Irene Heigelmoser unter den Nagel. Während sich alles auf Jules und Jorina konzentrierte, blieben sie mitten auf der Autobahn stehen, warfen Ernestine Rüdel und Hannes Seliger aus den Nobelkarossen, stiegen gemeinsam in eines der Cabrios, fuhren noch ein paar Meter weiter, bis das Fahrzeug plötzlich überraschend stehen blieb, kletterten flink aus dem Auto, schnappten sich die Geldkoffer und eilten über eine Wiese in das nahe gelegene Dorf. Dort kaperten sie den VW-Bus einer Urlauberfamilie aus Thüringen und setzten sich damit in die benachbarte Alpenrepublik ab.
Es gab nicht wenige an dem See inmitten von Bergen, die dem dementen, aber körperlich erstaunlich fitten Altenheimbewohner Dieter Gräber und der pferdeverliebten Putzfrau Irene Heigelmoser einen Neustart gegönnt hätten. Doch dazu kam es nicht.
Zum Verhängnis wurde den beiden letztlich, dass Gräber bei ihrer ersten Rast in Österreich vom Tankwart eine Quittung verlangte. Weil der Kassencomputer jedoch streikte, verloren die beiden so viel Zeit, dass sogar die eher gemütlichen Tiroler Polizisten, die beim Eintreffen des Hilferufs der bayerischen Kollegen gerade bei einer zünftigen Jausen gesessen hatten, sie einholen und festnehmen konnten. Didi Gräber war seine Vergangenheit als Finanzbeamter zum Verhängnis geworden. Einem ehemaligen Geheimagenten wäre das garantiert nicht passiert.
Schramm, Nonnenmacher und Kastner nahmen noch auf der Autobahn die zurückgelassenen Geiseln Ernestine Rüdel und Hannes Seliger in Gewahrsam. Als die Polizisten die Arme von Hannes Seliger sahen, waren sie überrascht: Da fehlte nichts. Seliger erklärte, dass für den Videofilm im Internet eine Kunststoffhand verwendet worden sei, die nach dem letzten Faschingsprosecco im Wandschrank der Bank vor sich hin gestaubt hatte. Ob die Hand in dem Film denn wirklich so echt ausgesehen habe?
»Ja«, meinte Nonnenmacher und merkte altklug an: »Im Film schaut vieles echter aus als wie in echt. Das ist so beim Film.«
Nach Jorina und Jules wird bis zum heutigen Tag gefahndet. Mit sachdienlichen Hinweisen wenden Sie sich bitte an die Polizeidirektion an dem See inmitten von Bergen.
Nach dem Maulwurf, der die Videokameras vor der Bank montiert hatte, wird ebenfalls bis heute gesucht.
Ein Gymnasiast des Klostergymnasiums vom See gilt als hoch verdächtig. Der Junge hatte in den Osterferien des Vorjahres einen Abitur-Vorbereitungskurs in Straßburg besucht. Außerdem entdeckten die Ermittler in seinem Zimmer eine Guy-Fawkes-Maske und mehrere Videokameras, die von ihrer Bauart her den am Bahnhof eingesetzten Geräten glichen. Allerdings fanden die Ermittler an den abmontierten Kameras vom Bahnhof keine Fingerabdrücke, die mit denen des angehenden Jurastudenten übereingestimmt hätten. Die jungen Leute – und gerade jene, die an Flüssen und Seen wohnen – sind heutzutage mit allen Wassern gewaschen.
Nachschlag
Die meisten Menschen wissen, dass ein »Reiberdatschi« ein Reibekuchen ist. Was aber verbirgt sich hinter dem Codewort »Räuberdatschi«, das in dieser Bankraubgeschichte eine zentrale Rolle spielt? Ist es gar eine Erfindung des Saunaathleten Schramm von der GSG9? Nein, ist es nicht. Es handelt sich um ein geheimes Rezept. Aber, weil ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, sehr schätze, habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um
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