Räuberleben
wusste, auf welche Weise der Oberamtmann zu seinem Posten gekommen war? Roth lebte allein wie Grau; im Unterschied zu diesem war er unverheiratet geblieben. Zwischen ihnen gab es kein vertrautes Verhältnis. Die Kammer, die dem Amtsdiener im Erdgeschoss der Oberamtei eingeräumt war, hatte Grau noch nie betreten. Roth schlief dort, er aß dort, ließ sich das Essen vom Gasthof Lamm bringen. Manchmal roch er widerlich nach abgestandenem Bier.
In Eilmärschen folgte die Truppe dem Lauf des Neckars. Sie übernachteten in schlechten Herbergen. Nun waren nicht nur Graus Finger wund, sondern auch die Füße. Abends betupfte er die Blasen an den Fersen mit Kamillentinktur; ein gespaltener Zehennagel, der nun langsam einwuchs, schmerzte ihn heftig. Als sie einmal eine Strecke lang ritten, verwünschte er innerlich hundertfach seinen Beruf, denn das Reiten war ihm so zuwider wie sonst nur ein Besäufnis in Gesellschaft. Es regnete oft, die Wege waren aufgeweicht. Immerhin erglänzte das neue Buchenlaub, wenn zwischendurch die Sonne schien, in kräftigem, hellem Grün. Aber die Muße, sich nach Insekten zu bücken, hatte er nicht.
Vom dritten Tag an, schon fast auf der Höhe von Göppingen, begannen sie sich nach den Flüchtigen zu erkundigen, und da kam Schäffer seine Liste zustatten. Er fragte nach Hannikel, einem Zigeuner, ungefähr 40 Jahre alt, etwa 5 Schuh und 2 Zoll groß, von Gesicht schwarzbraun, gebe sich als Jäger aus; er fragte nach dessen Bruder Wenzel, kleiner Postur, sei fast immer mit einer Flinte versehen. Er bekam ausweichende Antworten von Wirten, Fuhrleuten, Wäscherinnen, Hausierern und dann doch einige dienliche Hinweise. Beim Hohenstaufen, in der Nähe der Burgruinen, wurde eine ganze Schar von Zigeunern umzingelt, die zum Umkreis von Hannikel gehörten, darunter immerhin Duli und Nottele, die allem Anschein nach bei Tonis Ermordung dabei gewesen waren. Man hielt sie mit Waffengewalt fest und übergab sie nach einem ersten unergiebigen Verhör, bei dem sie alle Schuld leugneten, dem Oberamtmann von Göppingen.
Zu Schäffers großem Verdruss war Hannikel wiederum entkommen, dieses Mal vermutlich in südlicher Richtung, ins Bodenseegebiet und in die Schweiz. Heftig beschwerte sich Schäffer darüber, dass die Beamten der kleinen Herrschaft von Hohenrechberg die Zusammenarbeit verweigerten; hätten sie die Suche auf ihrem Gebiet rechtzeitig erlaubt, wäre Hannikel, so Schäffer, mit Sicherheit gestellt und gefasst worden. Er stapfte, weiß um Mund und Nasenwurzel, in der Wirtsstube herum, er fragte die übrigen Gäste in drohendem Ton, wie er, ein gewissenhafter Diener des Staates, auf solche Weise seine Pflicht erfüllen solle.
Ohne Hannikel und Wenzel kehrte man nach Sulz zurück. Schäffer überwand seine Enttäuschung, indem er die Mörder zumindest mit Worten einkreiste. Seine von Grau geschriebenen Hilfsgesuche wurden in die Reichsstadt Ulm geschickt, nach Biberach, nach Ravensburg, nach Bregenz und weiter ins Rheintal, sogar in die bündnerischen Täler, wo man die Bande ebenfalls vermutete. Darin forderte der Oberamtmann von Sulz alle Amtsstellen kategorisch auf, ihn schnellstens zu benachrichtigen, wenn man Verdächtige gesichtet oder gefasst habe.
Diese Wochen nach der ersten großen Streife waren für den Schreiber Grau eine Tortur. Die Blasen an den Füßen heilten zwar rasch ab, doch er war erschöpft, und es strengte ihn doppelt an, allen Anweisungen Schäffers nachzukommen. Den Fahndungsbriefen musste er jeweils eine Abschrift der einschlägigen Listenausschnitte beilegen; denn die gedruckten waren ausgegangen und längst verschickt, und es war zu teuer, in Eile eine neue Auflage zu drucken. Selbst wenn der Gehilfe Eyt mithalf, kosteten allein diese Abschriften Grau stundenlange Nachtarbeit. Eyt war langsam und begriffsstutzig, er hatte ein fliehendes Kinn, das häufig vor Aufregung zitterte. Schäffer hatte ihn angestellt, weil er aus einer verarmten, entfernt mit ihm verwandten Familie kam. Die Verstärkung, die sich Grau erbeten hatte, war er nicht, im Gegenteil: Alles, was Eyt geschrieben hatte, musste er überprüfen und korrigieren. Außerdem war seine, Graus, Handschrift viel leserlicher, und so blieb das meiste ohnehin an ihm hängen.
Die ersten spärlich eintreffenden Antworten auf Schäffers Hilfsbegehren enthielten nichts Genaues. Man habe gerüchteweise dieses und jenes gehört, die Gesuchten trieben sich hier oder dort herum, man habe versucht sie aufzuspüren und
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