Räuberleben
Fieberfrostes wegen, nach Hause gegangen. Als auch der Oberamtmann sich zurückgezogen hatte, schrieb der Schreiber noch die Entwürfe ins Reine, die am nächsten Morgen zur Unterschrift bereit sein mussten. Kurz vor Mitternacht hätte Grau sich ebenfalls zu Bett legen können, doch die innere Unruhe trieb ihn noch eine Weile in den Gassen herum, fast als wäre er ein Dieb, der eine günstige Gelegenheit zum Einbruch ausforschte. Der Dreiviertelmond schwamm hoch oben durch fahlfaseriges Gewölk, trübte sich und hellte sich wieder auf. Die Stadt schlief, die Fenster, hinter denen noch ein Licht brannte, waren rar. Dort saßen die Einsamen und fürchteten sich vor dem nächsten Tag. In den Gärten, die nach Süden lagen, zirpten die Grillen. Beinahe zärtlich dachte Grau daran, wie geschickt sie mit der gezähnten Ader des einen Vorderflügels über die Kante des anderen strichen und so ihre Töne erzeugten. In einem Brief hatte Fabricius erklärt, dass die Männchen mit diesem Gesang offenbar die Weibchen anlockten. Grau blieb stehen und lauschte eine Weile. Neben dem Zirpen und Gebell von weit her hörte er die Rufe eines Käuzchens. Grau standen keine Töne zur Verfügung, um ein Weib für sich zu gewinnen. Da ließ er es lieber sein, und die Avancen der Witwe Schlosser, die doch ein paar Jahre älter war als er, ignorierte er am besten. Vor ihm strich eine gescheckte Katze quer über die Gasse und verschwand in einem Kellereingang, es ging so schnell, dass er kaum Zeit hatte zu erschrecken. Doch unwillkürlich dachte er an seine Tochter Sophie. Als ihre Mutter fiebernd im Bett lag, saß Sophie neben ihr auf dem Boden, eine junge Katze im Schoß, sie streichelte das Tier und flüsterte ihm ins Ohr. Er fragte, was sie der Katze erzähle, unwillig schaute sie den Vater an und gab keine Antwort. Es war Monate her, dass er Sophie zum letzten Mal besucht hatte. Er scheute sich davor, ihre abweisende Miene wieder ertragen zu müssen. Das Kind wachse schnell, hatte ihm die Cousine gesagt, die Sophie nun aufzog. Daraus leitete sie das Recht auf höhere Unterhaltsbeiträge ab. Grau gab, was er konnte.
Ohne es beabsichtigt zu haben, kam er zum Fluss, der träge dahinzog. Sobald der Mond sich zeigte, lag ein Glanz auf dem Wasser, der Grau so flüchtig schien wie Freude und Glück im menschlichen Leben; beim kleinsten Windstoß zersplitterte die Lichtfläche im Kräuseln der Wellen. Grau setzte sich am Ufer ins taunasse Gras. Es dauerte nicht lange, bis er die Feuchtigkeit auf der Haut spürte und zu frösteln begann. Das macht nichts, sagte er zu sich, man hält noch ganz anderes aus.
Stuttgart, Schloss Solitude, 20. August 1786
Gegen Mittag war alles bereit, und der Herzog, dem der Hofmarschall Baron von Gaisberg Rapport erstattete, war so zufrieden, dass ihn zur Abwechslung eine große Heiterkeit erfasste. Er zeigte sich den Leibdienern gegenüber ungewohnt jovial, bedachte den einen mit einem Witzwort, den anderen mit einem Schulterklopfen. Ja, es war alles bereit; der Jagdgesellschaft, die in den nächsten Stunden eintreffen sollte, würde es an nichts mangeln. Der künstliche See, den zweihundert Fronarbeiter beim Westflügel des Schlosses ausgehoben hatten, war gefüllt. Am nördlichen Ufer lagen gut vertäut die nachgebauten venezianischen Gondeln. Dahinter stand der Pavillon für die ranghöchsten Gäste, links und rechts davon, in schöner Symmetrie, die Zelte für die übrigen, und etwas weiter entfernt waren auf terrassiertem Gelände die langen Tische fürs Bankett aufgestellt. Überall sah man Bedienstete in Livree und Bauernknechte, die noch etwas zu erledigen hatten. Es war, dachte Karl Eugen, ein Gewimmel wie auf einem dieser figurenreichen Bilder der Niederländer, die neuerdings wieder in Mode gekommen waren. Noch fehlten die Damen, sie würden bald mit ihren Roben wie Blumen das Gelände schmücken. Auch die Kulissenmaler hatten ganze Arbeit geleistet: Mit Tuch und Gips versehene Holzkonstruktionen täuschten auf den Schmalseiten des Sees Felswände und Grotten vor; sie würden bei Dunkelheit mit Tausenden von Wachskerzen illuminiert und einen fabelhaften Anblick abgeben. Am wichtigsten für die Prunkjagd war aber der südöstliche Teil des gegen die Stadt hin abfallenden bewaldeten Hangs. Dort wartete, innerhalb einer großen Umzäunung, das unruhige und verängstigte Wild darauf, zum richtigen Zeitpunkt freigelassen zu werden. Es waren einige Dutzend Hirsche, fünfzig Rehböcke, über hundert
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