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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Hartmann
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aufgewühlt, und er nannte alle Mittäter, an die er sich noch erinnerte. Allerdings bestand er darauf, dass er bloß Wache gestanden und das Haus gar nicht betreten habe. Die sieben verurteilten Lützelburger Bürger seien nie und nimmer dabei gewesen; einzig die böswilligen Verleumdungen der Juden hätten zu diesem schrecklichen Unrecht geführt, und daran sehe man, wozu dieser Menschenschlag fähig sei. Sie hätten sich gewiss an Schuldnern rächen wollen, die nicht in der Lage gewesen seien, die verlangten Wucherzinsen zu bezahlen. Hannikel ging so weit, sich zu bekreuzigen und Gottes Erbarmen für die Hingerichteten anzurufen; sogar Tränen standen in seinen Augen. Dass ausgerechnet Hannikel sich derart rühren lassen würde, hätte niemand für möglich gehalten. Man müsse doch, sagte er, zumindest die Nachkommen für dieses Unrecht entschädigen und danach forschen, ob die Galeerensträflinge noch lebten. Das werde man in die Wege leiten, sagte Schäffer, auch er ungewöhnlich bewegt. Noch am selben Abend diktierte er einen Brief an den Justizrat von Pfalzburg, in dem er berichtete, dass der berüchtigte Räuber Hannikel die damals Verurteilten völlig entlastet habe. Deshalb müsse ein neues Gerichtsverfahren aufgerollt werden, selbst wenn es die Toten nicht mehr lebendig mache.
    Von diesem Tag an schien Hannikel willens, seine Vergangenheit offenzulegen. Er tat es Schritt für Schritt, zeigte sich zwischendurch von Reue überwältigt und nahm doch bisweilen wieder eine Aussage zurück.
    Es gab Abende im Winter und im frühen Frühling, da hatte Grau kaum noch die Kraft, sich nach Hause zu schleppen, so müde und ausgelaugt fühlte er sich von dieser nicht enden wollenden Protokolliererei. Die Fingerspitzen waren wund, die Schreibhand steif. Zwar war ihm nach wie vor der Gehilfe Eyt zur Seite gestellt, der einiges ins Reine schrieb und sich die größte Mühe gab, die Bögen ordentlich zusammenzubinden. Aber furchtsam und zittrig, wie er war, entlastete er Grau nicht wirklich, und die üble Angewohnheit, in der Nase zu bohren, konnte man ihm nicht austreiben. Ein Zuruf ließ ihn jeweils zusammenzucken, und dann versteckte er die freie Hand für eine Weile hinter dem Rücken. Ein scharfer Tadel führte bei ihm rasch zu nassen Augen; und diese geradezu weibische Empfindlichkeit konnte einen sogar mitleidig stimmen. Aber Graus eigentliche Last war eine andere. Die Grausamkeit der Taten, von denen die Rede war, schien bisweilen das Verhörzimmer wie mit schwarzem Morast zu füllen, und gleichzeitig trieb darin so viel unverschuldetes Elend, dass es kaum zum Aushalten war. Der Stotterer Nottele, der mit flehendem Ausdruck darum rang, sich Silbe für Silbe auszudrücken, Duli, der oft den Atem anhielt und dann plötzlich laut schnaufte wie ein panisches Tier, Geuder, der von sich aus hilflose Reue zeigte, Bastardi, der unbeholfen sich und seinen Vater verteidigte, und natürlich die Frauen, die den Männern auf Gedeih und Verderb folgten: sie alle waren, in unterschiedlichem Maß, schuldig vor Gott und dem Gesetz, sie hatten die Kraft nicht gehabt, die Abwege, auf die sie geraten waren, zu verlassen. Ebenso schlimm war es, den Aussagen von vorgeladenen Einbruchs- und Raubopfern zuzuhören. Sie übertrieben wohl auch, sie wollten von den Behörden entschädigt werden; aber ihre Tränen waren echt, und als die Tochter des Juden Liebmann Levi in kaum noch vernehmlichem Flüsterton schilderte, wie die Bande ihren Vater und sie selbst gequält hatte, empfand Grau nicht das geringste Erbarmen mehr mit dem Rädelsführer Hannikel.
    Zwischendurch packte ihn das heftige Bedürfnis, von allem wegzulaufen, aus Sulz zu fliehen. Aber wohin sollte er denn? Unter Obstbäumen, an Waldrändern, in Baumrinden Insekten zu sammeln, lenkte ihn zwar eine Weile ab, aber auch das tröstete ihn nicht, umso weniger, als Fabricius ihren Briefwechsel aus unerfindlichen Gründen eingefroren hatte. Eine Weile spielte er mit dem Gedanken, unangemeldet nach Kiel zu reisen; aber Schäffer hätte eine mehrwöchige Abwesenheit nicht gestattet, und bei Fabricius mit der Tür ins Haus zu fallen, traute er sich nicht, obwohl er in früheren Briefen herzlich zu einem Besuch eingeladen worden war. Es blieb eigentlich nur die Fahrt nach Horb, zu seiner Tochter, und an einem Aprilsonntag, bei zaghaftem Sonnenschein, fuhr er in der Postkutsche hin.
    Die Cousine Klara, eine hochgewachsene Frau mit stark geäderten Wangen, war freudlos überrascht, ihn zu

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