Räuberleben
Sophies älterer Bruder gelten könnte. Lange kreisten seine Gedanken um die beiden, er wünschte sich, dass man den Jungen nicht zu hart anpacken möge, er wünschte sich, dass Sophie auch ihn einmal besuchen würde, und stellte sich vor, wie die Zimmerwirtin ein schönes Bett neben dem seinen für sie bereitmachen würde. Dann schlief er ein. Es war Nacht, kühle Nacht, als die Kutsche in Sulz ankam.
Verhöre, immer weitere Verhöre; sie wollten nicht enden. Am schwierigsten war es, in die Geschichte mit Toni Licht zu bringen. Hier widersprachen sich die Täter erbittert, feilschten gleichsam um Schuldanteile. Alle wussten, dass der Mord am Grenadier am schwersten wog. Beim verstockten Wenzel ordnete Schäffer sogar ein scharfes Verhör im Kellerverlies an, von dem Grau aber ausgeschlossen blieb. Nur Schäffer selbst, drei Beisitzer und ein aus Tübingen herbeigeorderter Henkersknecht, der sich mit der Streckbank auskannte, waren zugegen. Die Tür zum Verlies, dick und gepolstert, ließ keine Geräusche durch. Dennoch glaubte Grau, der weiter oben Protokolle nachführte, etwas zu hören; plötzlich begann er zu frieren. Nach einer Stunde, die ihn endlos anmutete, wurde Wenzel die zwei Treppen hoch ins Verhörzimmer zurückgebracht, er konnte sich nicht aufrecht halten, er war totenbleich, zitterte an allen Gliedern. Es habe genügt, beruhigte Schäffer hinterher Grau mit einem halben Lachen, Wenzel zum Schein die Daumenschrauben anzusetzen, da habe er sich schon geständniswillig gezeigt. Endlich hörte er auf, seine Rolle bei der schaurigen Misshandlung Tonis zu beschönigen. Ja, ja, stammelte er, ja, er habe Toni mit dem Hirschfänger über den Kopf gehauen, er habe ihm wohl die Stirn gespalten, sie hätten nicht mehr gewusst, was sie täten, er habe dann aber doch - nun schluchzte er - der Grausamkeit ein Ende machen wollen, er habe einen Stock schützend über den Schwerverletzten gehalten und die anderen aufgefordert, von ihm abzulassen, das sei die Wahrheit, so wahr ihm Gott helfe. Weil dies schon Bastardi ähnlich erzählt hatte, glaubte ihm Schäffer. Die widerwärtige Ermordungsszene zeichnete sich nun in fast allen Einzelheiten ab. Geuder hatte sich in der Tat abseitsgehalten, aber nichts verhindert, es fehlte noch Dieterles Anteil, den Hannikel stark gemildert, Duli und Nottele hingegen möglicherweise aus Eigennutz übertrieben hatten.
Sulz am Neckar, Frühling 1787
Eine Zeitlang konnte Grau den Oberamtmann davon abhalten, Dieterle wie einen Erwachsenen zu behandeln. Am Ende eines Verhörtages überwand er sich dazu, ihn erneut auf den Jungen anzusprechen. Er mache sich Sorgen um ihn, sagte Grau mit Vorsicht, kürzlich sei Dieterle aus ihm schwer verständlichen Gründen zu den Männern verlegt worden, und es sei gut möglich, dass er unter deren Einfluss verrohe und verkümmere. Er wisse, dass Dieterle nächstens zum offiziellen Verhör gebracht werden solle. Er bitte jedoch ehrerbietigst darum, dies dem Jungen zu ersparen; es könnte ihn knicken wie ein schmalstengeliges Pflänzchen. Er, Grau, plädiere dafür, in diesem Räuberspross die guten Seiten zu stärken, wie dies doch gerade bei Kindern Schäffers erklärte Absicht sei.
Der Oberamtmann hinter seinem Pult, von der Lampe angeleuchtet, als posiere er für ein Porträt, zog die Augenbrauen zusammen und musterte den Schreiber. »Was ist mit dem Jungen? Warum liegt er Euch derart am Herzen?«
Grau senkte den Kopf tief über den beschriebenen Bogen. »Er ist noch so klein«, sagte er beinahe demütig. »Ich glaube, er leidet am meisten unter dem Gefängnisleben, weit mehr als die jüngeren Kinder, die bei den Müttern sind und noch nicht begreifen, was ringsum geschieht.«
»Er ist ein Zeuge«, sagte Schäffer mit wachsendem Unwillen. »Er war nach übereinstimmenden Aussagen beim Mord an Toni dabei, er soll erzählen, was er gesehen und getan hat, woran er sich erinnert. So klein, wie Ihr ihn sehen wollt, ist er nicht mehr. Und seid beruhigt, wir werden ihn nicht härter anfassen als notwendig, wir sind keine Unmenschen.«
Grau hob den Kopf und wagte es, Schäffers Blick standzuhalten. »Für einen Jungen seines Schlages und seines Alters ist es schwierig, den eigenen Vater zu belasten. Er wird, ihm zuliebe, lügen oder unter dem Druck zusammenbrechen. Was für einen Sinn hat dann ein solches Verhör?«
»Das lasst meine Sache sein«, sagte Schäffer und trommelte mit den Fingern auf sein Pult. Er schien eine Weile
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