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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Hartmann
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sehen; ihre Miene hellte sich erst auf, als er ihr den Umschlag mit dem Pflegegeld, das er sonst mit der Post verschickte, persönlich überreichte. Doch, doch, das Mädchen gedeihe gut, sagte sie, es sei schon zu vielem zu gebrauchen, bloß manchmal ein bisschen schweigsam. Sophie, die trotz Klaras Beteuerungen immer etwas kränklich aussah, zog sich wie bei jedem Besuch in den ersten Minuten vor dem Vater zurück und versteckte sich hinter den drei älteren Pflegegeschwistern, die den Gast anstarrten, als käme er aus Amerika. Grau nahm sich vor, das nächste Mal seinen Regenschirm mitzubringen; wenn er Klaras Kindern erlaubte, ihn auf- und zuzuklappen, würde er sie vielleicht für sich gewinnen. Sophie teilte mit ihnen brav den Lebkuchen mit rotem Zuckerguss, Graus übliches Mitbringsel aus der Sulzer Bäckerei. Vater nannte sie ihn nicht, die Cousine hingegen Mutter. Allmählich taute sie auf und zeigte ihm die Puppenstube, die ein Nachbar aus Werkstattholz für sie zusammengenagelt hatte. Die Figürchen hatte sie selbst gebastelt, sie hatte Stöcklein mit Stofffetzen umwickelt und mit Faden umwunden, Bucheckern dienten als Köpfe, so dass die Puppenhausfamilie aussah wie ein dunkelhäutiger Negerstamm. Grau schaute ihr zu, wie sie, auf dem Boden kniend, die Figürchen hin- und herschob, verschiedene Stimmen nachahmte und erklärte, wer jetzt zu Bett müsse und wer schon zur Schule gehe. Sie war ganz versunken ins Spiel, schien den Vater vergessen zu haben und redete wie zu sich selbst. Ihr feines Haar, das sich über den Ohren wellte, fiel ihm auf, die beinahe durchsichtige Haut, unter der am langen Hals eine Ader pochte, und plötzlich durchströmte ihn eine Zuneigung, so stark und schmerzhaft, dass ihn schwindelte. Er hätte Sophie am liebsten hochgehoben und herumgetragen wie ein Neugeborenes, wäre mit ihr in den Wald gelaufen, hätte ihr einen Ameisenhaufen gezeigt und sich über ihr Staunen gefreut. Aber er war zu scheu und zu vorsichtig dafür, und überdies glaubte er, kein Recht zu haben, dieses Kind auf so heftige Weise für sich zu beanspruchen. Der verstorbenen Mutter glich es überhaupt nicht; ihm glich es, dem Schreiber Grau mit der spitzen Nase, den grünblauen Augen, ja, es war sein Fleisch und Blut, und trotzdem hatte das Leben - und Graus Unvermögen, eine andere Lösung zu finden - dieses Kind weit von ihm weggerückt.
    Er fragte Sophie, ob sie in der Schule, die sie dank seiner Zuwendungen besuchen durfte, etwas auswendig gelernt habe, ein Gedicht vielleicht, ein Lied. Sie erschrak, sie breitete ein Tuch über das Puppenhaus, denn jetzt sei Nacht, sagte sie. Dann stellte sie sich vor ihn, und während die anderen Kinder in der Küche lautstark zankten, sagte sie, ein wenig leiernd und dem Lachen nahe, ein Gedicht auf: Ein Huhn und ein Hahn, I die Predigt geht an, / ein Huhn und ein Kalb, / die Predigt ist halb, / eine Katz und eine Maus, / die Predigt ist aus.
    »So was lernt ihr also«, sagte Grau ein wenig ratlos, lobte Sophie aber und nahm sich vor, den Scherzvers, den er sich gemerkt hatte, später aufzuschreiben. Seit einiger Zeit kritzelte er hin und wieder etwas Privates auf Zettel, es waren kleine Erlebnisse, fragmentarische Gedanken, nie länger als ein paar Zeilen. Sogar zu Gedichtanfängen verstieg er sich, verbarg sie aber vor sich selbst, indem er sie jeweils schleunigst in einen alten Umschlag steckte und diesen zwischen abgelegte Aktenbündel schob.
    Er blieb zum Essen. Nun war auch Klaras Mann da, ein Färber, den der Älteste aus dem Wirtshaus heimgeholt hatte. Niemand richtete das Wort an Grau, man schlürfte die Fleischsuppe in tiefem Schweigen. Danach zeigte Sophie dem Vater den umgegrabenen Gemüsegarten hinter dem Haus, sie hatte selbst Kresse gesät, und nun stießen schon, dicht aneinander, die grünen Keimlinge aus der nassen Erde. Im Garten, sagte Sophie, sei sie fast am liebsten, da dürfe sie der Mutter überall helfen. Es war schon Zeit, sich zu verabschieden; für die wenigen Schritte aus dem Garten zurück ins Haus nahm der Vater das Mädchen an der Hand, und sie ließ sie ihm.
    Dann saß er wieder in der Postkutsche. Das Geschwätz der anderen Passagiere lief an ihm vorbei, er schaute durch die trübe Scheibe hinaus und sah nichts, nur das Kind sah er vor sich, seinen fragenden Abschiedsblick. Ein Huhn und ein Hahn, / die Predigt geht an, / ein Huhn und ein Kalb, / die Predigt ist halb. Unwillkürlich kam ihm in den Sinn, dass Dieterle, vom Aussehen her, als

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