Räuberleben
äußerst unterschiedlichen Zigeuner, die schon durch den Zufall der Geburt in die Nähe des Verbrechens geraten waren? Und was gab denen, die durch glücklichere Lebensumstände in einer ganz anderen Lage waren, das Recht, über die weniger Glücklichen zu urteilen? Sie war gefährlich, diese Frage, sie brachte vielerlei Gewissheiten ins Wanken, und das durfte nicht sein. Er, Grau, war ein halb glücklicher, halb glückloser Schreiber, er hielt sich im Niemandsland der Unbeachteten auf, die doch unverzichtbar waren im Räderwerk des Staates. Er hatte seine Pflichten gewissenhaft zu erfüllen; das erwartete man von ihm, nicht weniger und nicht mehr.
Er legte dann doch wieder einen der Kästen auf den Tisch, hob den Glasdeckel, inspizierte, nachdem er den Docht höhergeschraubt hatte, unter der Lupe mehrere Exemplare der Wildbienen, denen andere Forscher sprechende Namen gegeben hatten: die Aschbiene, die Köhlerin, die Zungenbiene. Die Anordnung schien ihm nicht mehr richtig zu sein; mit einer Pinzette tauschte er sorgsam einige Plätze untereinander aus, so dass nun die Farben der Hinterleiber von Schwarz zu Aschfarben gingen. Diese Arbeit, bei der er auf feinste Schattierungen achten musste, beruhigte ihn ein wenig, aber nicht im erhofften Maß. Er wusste, dass ihm auch das laue Bier, das ihm die Zimmerwirtin hingestellt hatte, den Schlaf nicht bringen würde.
Nachdem Dennele an drei aufeinanderfolgenden Tagen befragt worden war, kam Schäffer zum Schluss, sich weiter mit ihr zu befassen wäre vergeudete Zeit. Er habe gedacht, dass sie gerade in ihrer Naivität aufschlussreiche Erinnerungen gespeichert hätte; aber alles, was sie sage, sei verschwommen und ungenau, und sobald man den Namen Toni erwähne, verstumme sie einfach.
Ob man nicht vielleicht durch schärfere Mittel, fragte der Dorfvogt Plocher, zu besseren Ergebnissen kommen würde?
Nein, erwiderte Schäffer, er müsste sich selber verachten, würde er eine solche beschränkte Person unter Zwang setzen. Man werde sie jetzt einfach in Ruhe lassen, sie solle weiterhin bei ihrer Stiefmutter bleiben. Grau war erleichtert; kaum je hatte er sich mit dem Oberamtmann so einig gefühlt.
Sulz am Neckar, Winter und Frühling 17 8 7
Die Verhöre der Männer nahmen siebenundzwanzig Wochen in Anspruch und füllten neunzehn Foliobände. Schäffer hatte den Ehrgeiz, die Verbrechen der Hannikelbande restlos aufzuklären und alle bisherigen Widersprüche so weit aufzulösen oder einzuebnen, dass hinter dem Lügengestrüpp das »Gesicht der Wahrheit«, wie er es nannte, zum Vorschein käme. Um zu verhindern, dass die Gefangenen sich gegenseitig deckten, ließ Schäffer aus dem Zuchthaus Ludwigsburg den Konstanzer Hans kommen.
Der Konstanzer Hans, eigentlich Johann Baptist Herrenberger, war wie fast alle, die er nun denunzierte, früh ins Bettler- und Gaunerleben hineingeraten. Nach der ersten Verhaftung ließ er sich, um dem Zuchthaus zu entkommen, vom österreichischen Heer anwerben. Er desertierte bald und wollte zu den Preußen überlaufen, wurde aber ergriffen und zog sich beim Spießrutenlaufen, zu dem man ihn verurteilte, schwere Verwundungen zu. In Prag, im Hauptlazarett des Heers, lernte er Gauner kennen, die ihm das Beutelschneiden beibrachten. Als sein Regiment nach Freiburg verlegt wurde, glückte ihm die Desertion, er begann ein unstetes Leben mit einer kleinen Diebesbande, die vor allem in Pfarrhäusern einbrach, und lernte die berüchtigte Schleiferberbel kennen. Sie trieb ihn zu immer kühneren Taten, bei denen er zunehmend strategisches Geschick bewies. Herrenbergers Ruf verbreitete sich in ganz Württemberg und übertraf sogar jenen von Hannikel. Seine Raubzüge dehnte er mit der Zeit in die angrenzende Schweiz aus. Die Bauern schonte er; man erzählte sich, dass er nie körperliche Gewalt anwende, sondern durch List und Geschicklichkeit ans Ziel gelange. Zeitweise tat er sich mit Hannikel zusammen, und obwohl er offenbar bereit war, sich ihm unterzuordnen, war doch, wie es hieß, ihr Verhältnis schwierig. Immer wieder habe der Konstanzer Hans gegen Hannikels Anordnungen aufbegehrt. Und nach gemeinsamen Raubzügen sei es oft zum Streit über die Teilung der Beute und danach zur Trennung zumindest auf einige Zeit gekommen.
Dank Schäffers Nachforschungen und der Streifen, die er anordnete, gelang es, den Konstanzer Hans im Sommer 1782 bei Mahlberg festzunehmen und im eisernen Halsband nach Sulz zu überstellen. Er war Schäffers erster
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