Räuberleben
großer Fang, und schon bald zeigte sich, dass er für den Oberamtmann von unschätzbarem Wert war. Schäffer nämlich erprobte an ihm seine Verhörtechnik, die von väterlicher Güte bis zu schärfster Strenge alle Gefühlsregionen durchlaufen konnte. Drohungen wechselten sich ab mit dem Versprechen, dass ein geständiger Delinquent, der auch zu weiterer Kooperation bereit war, auf jeden Fall dem Todesurteil entgehen würde. Der Konstanzer Hans ließ sich beeinflussen; vielleicht sehnte er sich sogar danach, von einer Autorität wie Schäffer anerkannt, ja belobigt zu werden. Nach und nach offenbarte er ihm sein ganzes Wissen. Dabei kam ihm sein hervorragendes Gedächtnis zustatten, das gleichermaßen Orte, Daten und Physiognomien umfasste. Er gestand 136 nächtliche Einbrüche, begangen in wechselnder Gesellschaft, einige Male zusammen mit Hannikel. Gegen 300 Tagdiebstähle kamen dazu. Er berechnete minutiös seinen Gewinnanteil und kam auf eine Summe von mindestens 3000 Gulden. Wichtiger war für Schäffer indessen, dass der Konstanzer Hans über 500 Namen von Leuten nannte, die, ob Jenische oder Sinti, zum großen Netz der Nicht-Sesshaften gehörten. Sie waren zeitweise mit ihm herumgezogen, oder er hatte sie, unterwegs oder in Wirtshäusern, als seinesgleichen erkannt und sie sich eingeprägt. Er gab nicht bloß ihre Spitznamen und die Orte ihres Wirkens an, er vermochte häufig auch ihr Aussehen und ihre Kleidung zu beschreiben und ihre kriminellen Fähigkeiten zu beurteilen. Außerdem erinnerte er sich an Hehler, die ihm Diebesgut abgekauft hatten, an Schlupfwinkel und Treffpunkte der Jauner. Während dieser Geständnisphase hatte sich bei ihm, in langen Unterredungen mit Geistlichen, ein schwärmerisches Christentum herausgebildet; er wollte sein Gewissen gänzlich entlasten und wurde nicht müde zu betonen, wie tief er bereue, was er getan habe, und dass er nun als ein redlicher Christ leben und sterben wolle. Gleichzeitig entstand der Wunsch in ihm, andere, die so tief gefallen waren wie er, zu bekehren und auf den Weg der Tugend zurückzubringen.
Auf solche Weise war der Konstanzer Hans dem Henker entgangen. Er hatte nun unter erleichterten Bedingungen eine mehrjährige Zuchthausstrafe in Ludwigsburg zu verbüßen und sich Schäffer zur Verfügung zu halten, wenn er als Zeuge von Nutzen sein konnte. Schäffer plante sogar, ihn durch herzoglichen Gnadenerlass zum württembergischen Hatschier, zum Hilfspolizisten, zu ernennen und auf Streifen einzusetzen. Der Konstanzer Hans wehrte sich allerdings gegen diese Idee; er sei kränklich und körperlichen Anstrengungen nicht mehr gewachsen, sagte er, und er müsste damit rechnen, dass er vom erstbesten ehemaligen Kumpan, der ihn erkenne, getötet würde. Stattdessen versprach er Schäffer, im Armenhaus, wo er den Rest seiner Tage verbringen wollte, das Schreiben zu erlernen und ein Wörterbuch des Jenischen anzufertigen, das sich ja mit der Sprache der Zigeuner überschneide, aber doch verschieden von ihr sei. Und weil Schäffer sich davon eine noch bessere Kenntnis und Durchleuchtung des Jaunerlebens erhoffte, war er geneigt, auf diesen Vorschlag einzugehen.
Der Konstanzer Hans war ein großer, starkknochiger Mann mit glattem, harmlos wirkendem Gesicht und einer einschmeichelnden Tenorstimme. Als er zum ersten Mal das Verhörzimmer betrat, konnte Grau kaum glauben, dass dies der lange gesuchte Verbrecher war, so sehr unterschied er sich in Gestalt und Benehmen von Hannikel, der viel eher dem Bild des Räuberhauptmanns entsprach. Von Anfang an beschwor der Konstanzer Hans die Verhörten, das Lügen und Vertuschen aufzugeben und rückhaltlos zu gestehen, was sie verbrochen hatten. Wenn sie weiterhin bei ihren Ausflüchten blieben oder vorgaben, sich nicht erinnern zu können, unterbrach er sie mit seinem seltsamen Lachen und sagte, hier oder dort sei er, der Hans, doch dabei gewesen und sie seien, als Hannikels Spießgesellen, durchs Fenster gestiegen wie er, das werde er auch unter Eid bezeugen, denn es sei die Wahrheit. Soviel Hass ihm von Hannikels Leuten entgegenschlug, so schwer fiel es ihnen, seine präzisen Angaben zu widerlegen; sie führten häufig genug zu widerwilligen Geständnissen.
Am zähesten war die Auseinandersetzung mit Hannikel selbst. Hannikel, der nun nicht mehr sein Jägerwams, sondern eine fahlbraune, bis über die Knie reichende Gefängniskutte trug, versuchte den Konstanzer Hans zunächst zu ignorieren. Er ging auf dessen Vorhaltungen
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