Räuberleben
nachzudenken. Seine Miene erhellte sich. »Nun gut, ich gebe Euch Gelegenheit, den Jungen sozusagen privatim auszuforschen, ohne den offiziellen Rahmen, der ihn, wie Ihr meint, einschüchtern könnte. Geht zu ihm, sprecht väterlich mit ihm, und wenn Ihr sicher seid, dass er Euch erzählt hat, was er weiß, verzichte ich darauf, ihn selber zu vernehmen. Die Verantwortung liegt also bei Euch.«
Darauf war Grau nicht gefasst; schon wieder war ihm Schäffer um einen Zug voraus. Verwirrt suchte er nach Worten. Doch Schäffer war schon aufgestanden, bullig wirkte er nun im Lampenlicht, seiner selbst gewiss. Er wolle endlich nach Hause zu Frau und Kind, beschied er Grau, die Hannikelsache halte ihn mehr, als er je gedacht habe, von der Familie fern. Grau murmelte einen höflichen Abschiedsgruß. Er erinnerte sich nicht, Schäffers Frau, die früher ab und zu das Mittagessen gebracht hatte, in den letzten Wochen gesehen zu haben; sie war stets von ihrem kleinen Jungen begleitet gewesen. Beinahe hätte er den Oberamtmann gefragt, ob er sich vorstellen könne, was aus seinem eigenen Sohn würde, wenn er unter Zigeunern aufwüchse. Aber da war Schäffer schon gegangen, und es blieb an Grau, aufzuräumen und die Lampe zu löschen. Als auch er hinausging, stieß er draußen beinahe mit Roth zusammen, der, einen Leuchter in der Hand, darauf gewartet hatte, das Amtszimmer abschließen zu können.
»Endlich«, brummte Roth. »Es wurde auch Zeit.«
»Wir sind spät dran, ich weiß«, sagte Grau. »Die Arbeit wächst uns über den Kopf.«
Roth hüstelte und schützte die Kerzenflamme mit der Hand. »So viel Aufwand für diese Halunken. Wer soll das verstehen? Ich nicht.«
»Es ist schwierig, sich ein gerechtes Bild von ihren Taten zu machen.«
»Gerecht, gerecht!« Roth verschluckte sich beinahe an diesem Wort. »Ist es etwa gerecht, dass ich immer mehr arbeiten muss und man mir seit zehn Jahren keine Lohnerhöhung mehr gewährt? Ist es gerecht, dass ich mit diesem Verschlag da unten vorliebnehmen muss?«
Grau wurde es unbehaglich. »Reden Sie darüber mit dem Herrn Oberamtmann, ich bin der falsche Mann dafür.«
Roth stellte den Leuchter auf den Boden und suchte im Bund, den er am Gürtel trug, nach dem richtigen Schlüssel. »Jeder schaut für sich. So ist es doch.«
»Nicht immer, hoffe ich«, erwiderte Grau. Mit einem »Gute Nacht!« entfernte er sich von Roth. Der Flur lag vor ihm wie ein Schattenreich. Es war eines der längsten Gespräche, die er je mit dem Amtsdiener geführt hatte, und er stellte sich vor, dass Roth nun einsam zu Bett gehen würde, genau wie er selbst. Ein würgendes Mitleid stieg plötzlich in ihm hoch; er war sich nicht sicher, wem es galt. Auf dem Heimweg ging ihm unablässig ein Reim durch den Kopf, den er nur halb verstand: Was sind die Leuteschinder doch für blinde Kinder. Wie von selbst fügte sich ein weiterer an: Befleckte Herzen, bald erloschne Kerzen. Er nahm sich vor, die Sätze aufzuschreiben und zu seiner geheimen Zettelsammlung zu legen; nur auf diese Weise, das wusste er inzwischen, wurde er das Wortgesumm los.
Mit Schäffers Passierschein ging Grau zu Dieterle. Man stellte ihm für die Unterredung eine leere Zelle zur Verfügung; doch Grau erwirkte es, dass er sich mit dem Jungen - es war inzwischen Mai und warm genug - eine Weile im Gefängnishof bewegen durfte, unter einem von blendend weißen Wolken gefleckten Himmel, zu dem Dieterle beinahe ungläubig aufschaute. Grau blieb zunächst im Unverbindlichen, erkundigte sich freundlich nach Dieterles Befinden, fragte, ob er gut behandelt werde, ob er Hunger leide. Der Junge antwortete gar nicht oder, den Kopf von Grau weggedreht, lediglich mit »Ja« oder »Nein«. Grau hatte inzwischen erfahren, dass Dieterle selbst gewünscht hatte, zu den Männern zu kommen. Möglicherweise hatten Käther und die anderen Frauen gefunden, ein Zwölfjähriger könne nachts nicht länger bei der Mutter liegen und brauche den Beistand des eigenen Geschlechts. So fragte Grau, ob Dieterle nicht doch lieber zu den Frauen zurückwolle. Auch hierauf bekam er keine vernünftige Antwort, nur ein Achselzucken. Der Junge zupfte abweisend am Hemd herum, dem Geschenk des Schreibers, mittlerweile zerknittert und grau vor Schmutz. Allmählich lenkte Grau seine Fragen auf vergangene Ereignisse und vor allem auf die Nacht im April des vorigen Jahres, in der Toni gestorben war. Er sagte, es sei von größter Wichtigkeit, dass Dieterle sich in allen Einzelheiten
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