Räuberleben
Vergehen - vom Überfall in Mittelbronn bis zu Tonis Ermordung - Hannikel zur Last gelegt würden und durch Zeugenaussagen zur Genüge belegt seien. Die Liste war lang, die Formulierungen des Abscheus kehrten vielfach wieder. Auch die Verbrechen Wenzels, Dulis und Notteles mussten einzeln angeführt werden, obwohl dies zu ermüdenden Wiederholungen führte. Es wurde dunkel, der Amtsdiener kam beinahe lautlos herein und zündete eine Stehlampe an, die beide Männer in einen einzigen Lichtkreis fasste. Grau legte, zu Schäffers Unwillen, immer häufiger die Feder weg und schüttelte die Schreibhand, um den drohenden Krampf zu verhindern. Erst gegen Mitternacht kam Schäffer, erschöpft auch er, zum letzten Absatz, in dem er sich wieder direkt an die Verurteilten wandte: »Ihr habt jetzt einen sauren Gang vor euch. Aber das Ende dieses traurigen Gangs zur Richtstatt kann auch selig sein, und eure Seelen können noch vom ewigen Tod errettet werden, wenn ihr mit ernstlichem Gebet und Flehen Jesum, euren Erlöser, bittet, dass er in seinem Reich in Gnaden an euch gedenke, alle eure abscheulichen Sünden vor dem heiligen Angesichte seines Waters bedecken wolle. Wie gut wird euch dieses zustattenkommen, wenn ihr nun in wenigen Augenblicken vor dem hellglänzenden Richterstuhl des heiligen und gerechten Gottes erscheinen und allda Rechenschaft geben sollet von allem, was ihr Böses getan habt! Da kann niemand für euch bitten als Jesus, da kann auch niemand retten als Jesus, darum haltet euch im Gebet und Glauben allein an ihn.« Bei diesen letzten Sätzen drohte Schäffers Stimme zu brechen. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen, er lehnte sich zurück, spreizte die Beine, wischte sich über die Stirn. »Das ist ja im Ganzen gar nicht schlecht, Grau«, sagte er nach einer Pause. »Oder was meinen Sie?«
Der Schreiber hatte eben erst den letzten Punkt gesetzt und schwieg.
»Wie ich die Rede von der Verdammung zur möglichen Erlösung führe, ist doch äußerst wirkungsvoll. Man wird erschauern und am Schluss Tränen weinen.«
»Zweifellos«, murmelte Grau. Er blies über das letzte Blatt, um die Tinte zu trocknen, er kämpfte mit sich selbst, wie so oft in letzter Zeit, und entschied sich für eine deutlichere Reaktion. »Aber ist es, wenn Sie von abscheulichen Unmenschen reden, auch die Sprache Ihres Herzens?«
Schäffer zuckte zusammen. »Was soll das? Den Leuten, die mir morgen zuhören, ist es nicht nach Feinheiten zumute, sie wollen Klarheit. Die gebe ich ihnen. Wir müssen zeigen, dass die Gerechtigkeit auf unserer Seite ist.«
Grau schob die beschriebenen Blätter übereinander. Das Licht im Raum war schummrig geworden; man sah kaum noch Einzelheiten. Oder waren bloß seine Augen überreizt?
Schäffer stand auf und streckte die Hand aus. »Geben Sie her!« Halblaut las er den Anfang und blinzelte. »Sie hätten größer schreiben sollen, das habe ich Ihnen doch schon oft gesagt. Meine Augen sind nicht mehr die besten. Gehen Sie jetzt schlafen, wir müssen uns bis morgen früh erholen.«
»Brauchen Sie noch etwas, Herr Oberamtmann?«
Diese Beflissenheit: sie kehrte immer wieder zurück zu Grau wie ein Hündchen, das man wegschickt, aber gegen dessen Treue man machtlos ist. Schäffer schüttelte den Kopf, es war einer der Momente, in denen er plötzlich alt und krank aussah. Als Grau ging, kam ein vernehmliches »Gute Nacht« von Schäffer, und Grau war so verblüfft über die plötzliche Freundlichkeit, dass er gar nichts erwiderte.
Er saß am Neckar im feuchten Gras, unweit der Brücke. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal von dieser Stelle aus ins Wasser geblickt hatte? Der Mond schien ihm entfernter denn je. Nah war die Spiegelung im Fluss; mit einem Steinchen konnte er sie zerstören und zuschauen, wie das aufgeregte Glitzern sich wieder beruhigte. Er wollte noch nicht zurück in seine Kammer, in der ihn Hunderte von toten Insekten umgaben. Hier waren sie lebendig, die Grillen zirpten so laut, dass ihm beinahe die Ohren weh taten. Noch anderes tat ihm weh, die Brust, es war eng da drin, die Freude hatte darin keinen Platz mehr.
Ohne dass er es wollte, trat ihm ein Bild vor Augen, das immer deutlicher wurde, gerade so, als schwebten die beiden Gestalten aus nebelartiger Verschwommenheit auf ihn zu: Hannikel und Käther, die beieinanderlagen, nackt und nicht mehr jung. Hannikel trug keine Ketten mehr. Grau schämte sich über seine Phantasie, und andrerseits war diese Nacktheit so
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