Räuberleben
selbstverständlich wie die Umarmung der beiden. So nahm man Abschied voneinander, nackt und besitzlos; die Umarmung war alles, was sie noch hatten und einander geben konnten.
Mit Mühe erinnerte er sich an Christines warmen Körper, an ihre Haut, die an vielen Stellen geschmeidig und weich gewesen war, an anderen rauh. Das Fleckfieber hatte sie verunstaltet, ihr Gesicht aufgedunsen, überall die roten Flecken, das Haar fiel ihr aus, sie redete wirr. Drei schreckliche Wochen lang fraß das Fieber an ihr. Als sie schon dem Tode nahe war, erkannte er sie gar nicht mehr. Dazu noch das Leiden der beiden Söhne, denen auch nicht zu helfen war. Weshalb Sophie und er das Fieber überstanden, konnte ihm niemand erklären. Die erste Zeit nach dem Verlust wäre es ihm manchmal lieber gewesen, auch er läge unter dem Boden. Die Arbeit gab ihm Halt, er hielt sich, so absurd es andere anmuten mochte, gleichsam an seinen toten Insekten fest, an ihren zarten Flügeln, an ihren dünnen Beinen. Sie verkörperten eine Ordnung, die zerbrochen war. Die Tage des Fiebers verschloss er tief in sich, versiegelte sie dutzendfach, sicherer als jedes geheime Dokument. Und doch sickerte der Schrecken bisweilen durch Risse, die an Tagen wie dem heutigen entstanden.
Wer hätte jetzt schlafen können? Doch draußen konnte er nicht bleiben, es wurde kühler, die Schnaken trieben ihr Unwesen mit ihm, und der Nachtwächter, der seinen Rundgang machte, hätte ihn gefragt, was er um diese Zeit am Fluss zu suchen habe. Sophies Vers kam ihm in den Sinn: Ein Huhn und ein Hahn, die Predigt geht an. Und jemand in ihm, der Störenfried, reimte weiter: Macht ihm den Garaus, dann ist die Predigt aus.
Es gelang ihm nicht, ungehört in sein Zimmer zu schleichen. Die Witwe Schlosser hatte, obwohl es schon beinahe zwei Uhr war, auf ihn gewartet. Als er, so leise wie möglich, die Haustür öffnete, stand sie im Flur. Sie trug ein Licht in der Hand, dessen Schein aus ihrem Nachthemd und dem Schal darüber ein faltenreiches Gebirge machte. Noch stattlicher schien sie Grau als tagsüber, es gab kein Vorbeikommen.
»Was ist denn das für eine Art, Herr Schreiber?«, tadelte sie ihn, aber ohne Bosheit, eher mitleidig, sogar zärtlich. »Spannt man Euch jetzt auch noch für Nachtarbeit ein?«
»Ich bin müde«, murmelte Grau.
Sie hob die Kerze und leuchtete ihm ins Gesicht. »Traurig seht Ihr aus, himmeltraurig. Was hat man Euch angetan?«
»Nichts.« Grau blinzelte und machte eine abwehrende Bewegung, so dass die Kerze zu flackern begann. »Morgen ist die Hinrichtung, da muss vorher noch vieles erledigt sein.«
»Heute ist sie«, verbesserte ihn die Zimmerwirtin. »Heute. Und Ihr müsst euch jetzt kräftigen. Ich habe Euch das Essen warm gehalten.«
»Ich habe ausrichten lassen, das sei nicht nötig. Ich will jetzt einfach schlafen.« Er sagte es, obwohl er wusste, dass der Schlaf nicht kommen würde.
Sie lachte leise. »Ach was, ein Mann muss essen.« Sie versperrte ihm weiterhin den Weg und wies gebieterisch zur Küche. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich an ihr vorbeizudrängen, und er musste sich eingestehen, dass ihn das Faltengebirge mit dem Nachthaubenkopf nicht bloß abschreckte, sondern auch anlockte. Es kam zur Berührung von Oberarm mit Schulter, dann, nach einer leichten Drehung, von Brust mit Brust, er spürte Weichheit und Nachgeben, eine Wärme umgab ihn, die ganz anders war als die Sommerhitze, er roch Muskat, Äpfel, Lavendel. Hatte sie sich gar parfümiert für ihn? Sie blies die Kerze aus, ließ sie einfach fallen, dann fielen auch Schal und Nachthemd zu Boden. Er glitt in eine Umarmung hinein wie in einen halb erwünschten und halb verworfenen Traum.
»Komm«, sagte sie ihm ins Ohr.
Zog sie ihn im Dunkeln mit sich ins Schlafzimmer? Oder ging er von selbst über die Schwelle, die er bloß mit den Schuhen ertastete? Noch nie hatte er ihr Zimmer betreten. Im schwachen Mondschimmer, der durch die Ritzen der Fensterläden drang, erahnte er die Konturen von Schrank und Bett. Sie half ihm beim Aufknöpfen des Rocks, des Hemds, es schien sie zu amüsieren, sie lachte ein wenig, dann lagen sie da, seine Hände wussten zu seinem Erstaunen noch, was sie zu tun hatten, und ihre wussten es auch.
Danach - sie blieben eng aneinandergeschmiegt - nahm die Schläfrigkeit überhand, ein Lied ging ihm durch den Kopf, das er lange nicht mehr gehört hatte: Komm, Trost der Nacht / O Nachtigall/ Lass deine Stimm mit Freudenschall / Aufs
Weitere Kostenlose Bücher