RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
seine Rückhand zu spielen, wie ich es bei 90 Prozent meiner Aufschläge getan hatte, zielte ich geradewegs auf seinen Körper und zwang ihn zu einem linkischen Vorhand-Return, der in der Feldmitte landete. Mir war klar, dass er mit einem hohen Drive auf seine Rückhand rechnete, aber wieder überraschte ich ihn. Es war nicht der Zeitpunkt für Halbheiten. Ich hatte meine Ängste überwunden, und da nun der richtige Moment für die Offensive war, wagte ich einen kraftvollen Vorhand-Drive tief in seine Vorhandecke. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu recken und einen Lob zu spielen, der in den Himmel flog, aber dicht am Netz landete. Mit einem Ball, der hart auf den Rasen prallte und hoch in die Zuschauerränge des Centre Court flog, beendete ich den Ballwechsel und ballte die Faust. Noch nie hatte ich einen Ballwechsel so druckvoll, mutig, intelligent und gut gespielt. Auch den nächsten Punkt holte ich und gewann dann das Spiel, indem ich ihn mit einem sauberen Vorhand-Winner in seine Rückhandecke auf dem falschen Fuß erwischte.
Nun stand es 4:4. Damit war ich genau da, wo ich sein wollte, und es war Zeit zu kämpfen, aggressiv zu spielen, bei jedem Ballwechsel aufs Ganze zu gehen und auf meine Chance zu warten. Wenn man es bis in den fünften Satz eines solchen Matchs geschafft hat, bedeutet das, man spielt gut genug, um den Angriff wagen zu können. Außerdem gab es jetzt gar keine andere Möglichkeit mehr. Toni hatte gesagt, wenn wir es zu einem Stand von 4:4 schafften, würde der Spieler gewinnen, der seine Nerven besser im Griff hätte. Ich hatte das Gefühl, meine Nerven im Griff zu haben. Zudem hatte ich den Eindruck, dass die Zuschauer sich auf meine Seite schlugen. Im vorangegangenen Satz hatten sie Federer stärker angefeuert, weil sie einen fünften Satz in diesem Match sehen wollten. Aber nun hörte ich mehr Rufe: »Rafa! Rafa!« als »Roger! Roger!« Selbstverständlich habe ich die Zuschauer gern hinter mir, aber nach dem Match, oder später beim Anschauen der Videoaufzeichnung, genieße ich es mehr als während des Spiels. Solange ich spiele, darf ich mich von nichts ablenken lassen, nicht einmal von der Unterstützung der Fans.
Vielleicht standen sie auf meiner Seite, weil sie fanden, dass ich besser spielte und den Sieg eher verdiente. Dieses Gefühl hatte ich jedenfalls in der Endphase des Matchs. Er schlug die Bälle nicht so sauber wie ich und verschlug sogar einige Male die Vorhand, die sonst seine Stärke ist. Ich spürte, dass ich den Nervenkrieg gewinnen würde und er müder war als ich. Aber weiterhin verfügte er über eine Waffe, die mir fehlte: den großartigen Aufschlag. Damit machte er sich von Schwierigkeiten frei, gewann das nächste Spiel und ging 5:4 in Führung. Bei meinem Aufschlag musste ich nun nicht nur ein Break verhindern, sondern auch das Match retten.
Was den kraftvollen Aufschlag anging, konnte ich nicht mit ihm mithalten, so musste ich versuchen, ihn zu überlisten. Und genau das tat ich mit einem Ass, nachdem ich beim ersten Ballwechsel mit 15:0 in Führung gegangen war. Dieses Ass gelang mir nicht durch einen kraftvollen Ball, sondern weil er erwartete, dass ich auf seine Rückhand zielte, ich aber im weiten Bogen auf seine Rechte spielte. Ich hatte genügend Selbstvertrauen und ließ es ihn spüren. Mein Aufschlagspiel gewann ich recht problemlos zu 30. Und dann steckte er mit einem Mal in echten Schwierigkeiten. Bei seinem Aufschlag ging ich 40:15 in Führung, nachdem ich tief aus der linken Grundlinienecke eine wirbelnde Vorhand an der Seitenlinie entlangschlug. Zwei Breakbälle, und ich schwebte förmlich, aber dann, bang! Ein Ass. Und ein weiterer großartiger Aufschlag. Er gewann das Spiel und lag mit 6:5 vorn. Mein einziger Trost war das Wissen, dass es nicht mein Fehler war, anders als im dritten Satz, als ich beim Stand von 40:0 eine Breakchance gegen ihn vergeben hatte. Aber nun musste ich einen mentalen Kampf ganz anderer Art bestehen, nämlich gegen meine wachsende Frustration über die unglaublich selbstverständliche Effektivität seines Aufschlags. Mir war völlig klar, dass ich die Oberhand gewann, sobald ein Ballwechsel in Gang kam, aber er gab mir nicht den Hauch einer Chance, in mein Spiel zu kommen.
Wieder musste ich meinen Aufschlag durchbringen, um im Match zu bleiben, und schaffte es relativ locker zu 15. Federer hatte meinem offensiven Spiel wenig entgegenzusetzen, sobald es zu einem Ballwechsel kam. Allerdings bin ich mir nicht
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