RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
überraschte ihn: »Entspann dich. Keine Sorge. Ich bin ganz ruhig. Ich kann es schaffen. Ich werde nicht verlieren.« Toni war verdutzt und wusste nicht, was er sagen sollte. »Na gut«, erklärte ich, »vielleicht gewinnt er letzten Endes, aber ich werde nicht so verlieren wie im vergangenen Jahr.« Das meinte ich durchaus ernst. Was auch passieren mochte, ich würde ihm den Sieg nicht auf einem Silbertablett servieren. Ich würde in meiner Aufmerksamkeit nicht nachlassen und mich nicht wieder selbst enttäuschen. Er sollte ebenfalls um jedes winzige Stück des Weges kämpfen müssen, und ich würde kein Stück Boden preisgeben. Anders als in der ersten Regenpause war es Federer, der dieses Mal in der Umkleidekabine still blieb, während ich plauderte. Sobald Toni sich von der Verblüffung erholt hatte, dass er mich nicht aufzurichten brauchte, unterhielten wir uns sachlicher über das Spiel. Ich sprach über einige Fehler, die ich im vierten Satz gemacht hatte. Damit wollte ich mich aber nicht aufbauen, sondern sicherstellen, dass ich sie nicht vergaß und auch nicht wiederholte. Meine Fehler im Tiebreak des vierten Satzes, als ich 5:2 in Führung gelegen und zwei Matchbälle vergeben hatte, sah ich nicht wie Toni als verpasste Chancen, sondern als Beleg dafür, wie nah ich einem Sieg gekommen war, wie sehr ich Federer in die Enge getrieben hatte. Ich wusste, dass ich nicht versagen würde, wenn sich solche Chancen erneut bieten sollten. Außerdem erinnerte ich Toni daran, dass ich kein einziges Mal meinen Aufschlag verloren hatte, Federer aber schon zweimal, obwohl er bislang etwa fünfmal so viele Asse geschlagen hatte als ich. Und da ich schon zwei Sätze gewonnen hatte, wieso sollte ich nicht noch einen dritten gewinnen können?
Mein Vater, meine Mutter und alle anderen gaben später zu, wie verwundert sie waren, als Toni aus der Umkleidekabine kam und ihnen von meiner gelassenen Stimmung erzählte. Einige von ihnen fragten sich, ob ich diese Entspanntheit nicht nur vortäuschte, um mir selbst etwas vorzumachen oder sie zu beruhigen. Toni erklärte ihnen, dass er sich das auch schon gefragt hätte, aber an meinem Tonfall und Blick erkannte, dass es mir ernst sei. Es war mir ernst. Ich wusste, dass dies mein Augenblick war.
Titín wusste es ebenfalls. Seither haben wir einige Male über diesen Moment gesprochen. Er hatte ebenso wie Toni etwas anderes erwartet, aber nun gesehen, dass ich in der Endphase des Matchs selbstbewusster und gelassener wirkte als tags zuvor beim Abendessen, beim Dartspielen, beim Training am Vormittag oder beim Mittagessen. Als der Regen nach einer halben Stunde aufhörte, verließ Titín die Umkleidekabine mit derselben Überzeugung wie ich, dass meine Zeit für den Wimbledon-Sieg endlich gekommen sei.
Es stand 2:2 und Einstand bei Federers Aufschlag. Er schlug zwei Asse und gewann das Spiel. Dagegen konnte ich nichts machen. Asse sind wie Regen. Man akzeptiert sie und macht weiter. Ich antwortete mit einem großartigen Vorhand-Winner zu Beginn meines Aufschlagspiels, das ich zu 15 gewann. Seinen nächsten Aufschlag brachte er mühelos zu null durch und beendete das Spiel mit einem weiteren Ass. Im nächsten Spiel bekam er beim Stand von 4:3 bei meinem Aufschlag seine Chance. Den ersten Punkt holte er, als ich eine Vorhand knapp ins Aus schlug. Ich erhob Einspruch, allerdings mehr aus vager Hoffnung als aus realistischer Erwartung. 0:15. Beim Stand von 30 beide schlug er unvermittelt einen perfekten Vorhand-Winner an der Linie, erwischte mich auf dem falschen Fuß, weil ich den Ball auf meiner Rückhand erwartet hatte, und ich geriet 30:40 in Rückstand. Es war der erste Breakball des Satzes und einer der größten Ballwechsel meines Lebens. Ich dachte nicht an die Konsequenzen. Ich dachte nicht daran, dass er 5:3 in Führung gehen würde, falls ich diesen einen Punkt verlöre und das Match dann sicher ihm gehörte. Ich dachte nur: »Konzentriere dich mit deiner gesamten Energie und mit jeder Hirnzelle und allem, was du je in deinem Leben gemacht hast, darauf, diesen nächsten Punkt zu halten.« Damals hatte ich den Eindruck, dass er mit einem harten Schlag einen schnellen Gewinnball versuchen würde und ich verhindern musste, dass er eine Gelegenheit dazu bekam. Und der beste Weg, das zu verhindern, war, als Erster in die Offensive zu gehen. Der Moment war gekommen, meine Spieltaktik zu ändern, ihn zu überraschen und etwas Unerwartetes zu tun. Statt den ersten Aufschlag weit auf
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