RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
sicher, ob es mein Vater damals ebenso sah. Nachdem ich das Spiel gewonnen hatte und es 6:6 stand, schaute ich flüchtig zu ihm hinauf und sah, dass er wie wild aufsprang, klatschte und mich mit vor Aufregung verzerrtem Gesicht anfeuerte, so wie ich es noch nie erlebt hatte. Wild zu werden kam für mich in diesem Moment nicht infrage. Ich hatte das Gefühl, dass der Sieg mir gehörte, wenn ich nur einen kühlen Kopf bewahren würde. Federers Grundschläge gingen daneben. Beim ersten Ballwechsel und bei einem Stand von 6:6 – im letzten Satz gab es kein Tiebreak – verpatzte er eine einfache Vorhand völlig. Den nächsten Punkt holte ich im ersten langen Ballwechsel bei seinem Aufschlag. Darauf folgten drei weitere donnernde Aufschläge, durch die er 40:30 in Führung ging. Mittlerweile war ich mir sicher, dass er müder und unsicherer in seinen Schlägen war als ich selbst. Daher frustrierte mich die unfehlbare Konstanz seines Aufschlags zunehmend. Doch es war sein einziger Ausweg. Ich dachte: »Ich spiele eindeutig besser, aber was kann ich jetzt noch machen?«
Ich schaffte den Einstand und sah meine Chance, als er endlich einmal seinen ersten Aufschlag verpatzte. Aber nein: Seinen zweiten Aufschlag returnierte ich mit einem harten, langen Schlag. Einen halben Meter zu lang. Das mochte nach einem schlimmen Fehler aussehen, was es aber in gewisser Weise nicht war. Denn er bedeutete, dass ich weiter offensiv blieb und Alles-oder-nichts-Tennis spielte. Hätte ich den Punkt verloren, weil ich den Ball zu kurz, also ins Netz gespielt hätte, wäre das ein Zeichen für meine nachlassende mentale Stärke gewesen. Aber ich hatte den Schlag voller Selbstvertrauen ausgeführt. Patzer gehören zum Spiel, aber manchmal ist es produktiver, einen Punkt durch einen eigenen Fehler als durch einen Winner des Gegners zu verlieren.
Alle Punkte sind wichtig, manche jedoch entscheidender als andere. Nun war jeder einzelne Punkt Gold wert. Mein Onkel Rafael, der auf der Zuschauertribüne saß, sagte mir später, er an meiner Stelle hätte den Druck nicht ausgehalten, ihm hätten die Beine versagt, er wäre einfach weggerannt, mit dem nächstbesten Flugzeug weit weg geflogen und nie wiedergekommen. Der Unterschied zwischen mir und ihm und anderen Zuschauern, die vielleicht ähnlich dachten, war, dass ich mein Leben lang auf diesen Moment hin trainiert hatte, nicht nur spieltechnisch, sondern auch mental. Tonis strenges Regime – mich als Kind mit Bällen zu bewerfen, um meine Aufmerksamkeit wach zu halten, mir keine Ausreden und keine Selbstgefälligkeiten durchgehen zu lassen – trug nun Früchte. Zudem besitze ich eine – ich weiß nicht, ob angeborene oder erlernte – Eigenschaft, die Champions einfach brauchen: Druck spornt mich an. Natürlich, manchmal knicke auch ich ein, aber häufiger befördert Druck mein Spiel.
Das gesamte bisherige Match war für mich eine Geschichte verpasster Gelegenheiten: Im dritten Satz hatte ich die Breakchance beim Stand von 40:0 verpasst, im vierten zwei Matchbälle vergeben und nun im fünften beim Stand von 5:5 und 6:6 kein Break geschafft, obwohl ich jeweils mit 40:15 beziehungsweise 30:0 in Führung gelegen hatte. Nun lag er 7:6 vorn, und wieder musste ich meinen Aufschlag durchbringen, um mich im Match zu halten. Aber ich fand es nicht besonders beängstigend, sondern eher erregend. Ich hatte zwar Chancen vergeben, aber es waren meine Chancen – eher ein Grund zur Freude als zur Klage. Und früher oder später würde ich meine Chance nutzen – zu dieser Einstellung versuchte ich mich zu zwingen.
Allerdings holte er den ersten Punkt mit einem guten, langen Aufschlagreturn und einem unerreichbaren Winner. Da konnte ich nichts machen. Er hatte großartig gespielt. Auf zum nächsten Ballwechsel. Ich erholte mich rasch. Er schlug eine Vorhand zu lang; mir gelang ein erster Aufschlag auf seinen Körper, gegen den er machtlos war. Es folgte ein langer Ballwechsel, bei dem ich jeden seiner Bälle mit Zins und Zinseszins zurückbrachte und er letztlich den Ball zahm ins Netz schlug. Er hatte seine Beine für den Schlag nicht richtig positionieren können; offensichtlich war er müder als ich. Das zu sehen gab mir Kraft, aber kein überzogenes Selbstvertrauen. Ich hätte nun durchaus denken können: »Jetzt habe ich ihn«, aber das tat ich nicht. Vielmehr ging mir durch den Kopf: »Ich bin immer noch im Spiel, ich kann gewinnen.« Allerdings war mir klar, wenn ich den nächsten Ballwechsel
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