RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
zum Ball, der sanft in der Feldmitte aufkam, und verwandelte ihn nicht in einen Winner, sondern schlug ihn schlecht, linkisch und mit der falschen Fußposition mitten ins Netz.
Ich ließ mich mit ausgestreckten Armen und geballten Fäusten mit dem Rücken flach auf den Wimbeldon-Rasen fallen und brüllte triumphierend. Die Stille des Centre Court wich einem Höllenlärm, und endlich ließ ich mich von der Euphorie der Zuschauer mitreißen und befreite mich aus dem mentalen Gefängnis, in dem ich von Anfang bis Ende des Matchs, den ganzen Tag, den Vorabend und die zwei Wochen des größten Tennisturniers der Welt zugebracht hatte. Im dritten Anlauf hatte ich es endlich geschafft und damit das Ziel aller Mühen, Opfer und Träume meines Lebens erreicht. Die Angst vor der Niederlage, die Angst vor dem Sieg, die Frustrationen, Enttäuschungen, Fehlentscheidungen, Momente der Feigheit, die Befürchtung, wieder weinend in der Dusche der Umkleidekabine zu hocken: Das alles war weg. Was ich empfand war nicht Erleichterung, darüber war ich hinaus. Es war eine Woge der Energie und Euphorie, ein Entfesseln von Gefühlen, die ich in den angespanntesten vier Stunden und 48 Minuten meines Lebens beherrscht hatte, ein Ansturm reinster Freude.
Irgendwie musste ich mich zusammenreißen. Ich musste ans Netz gehen und Roger die Hand reichen, den ich nach vier Jahren Wartezeit als Nummer eins der Weltrangliste ablösen würde. Außerdem wartete die förmlichsteife Zeremonie der Siegerehrung. Aber mir flossen die Tränen, ohne dass ich dagegen ankam. Und noch etwas musste ich vor der Siegerehrung tun, nämlich ein emotionales Ventil öffnen, was unbedingt nötig war, bevor ich auch nur im Ansatz zu jenem zurückhaltenden Auftreten fähig war, das die Tradition von Wimbledon verlangte. Ich lief in die Ecke, in der meine Eltern, Toni, Titín, Carlos Costa, Tuts und Dr. Cotorro nun standen, und kletterte über die Sitzreihen und eine Mauer zu ihnen hinauf. Ich weinte ebenso wie mein Vater, der mich als Erster begrüßte. Wir umarmten uns, dann fiel ich meiner Mutter und Toni um den Hals und wir drei hielten uns in einer großen Umarmung fest.
War das der größte Moment meiner Karriere? Jedes Match ist wichtig. Ich spiele jedes einzelne, als wäre es mein letztes. Aber dieses Match in diesem Rahmen mit dieser Geschichte, diese Erwartungen, diese Spannung, die Regenpausen, die Dämmerung, die Nummer eins gegen die Nummer zwei, und wir beide spielten unser Spitzentennis, Federers Comeback, mein Widerstand dagegen, mein Stolz auf meine Einstellung zum Match, der größer war denn je, weil mich die Erinnerung an die Niederlage von 2007 verfolgte, ich aber meinen inneren Nervenkrieg führte und gewann … ja, wenn man das alles zusammennimmt, ist kaum ein anderes Match vorstellbar, das so viel Dramatik und Emotionen hätte erzeugen und mir und den Menschen, die mir am nächsten stehen, so enorme Befriedigung und Freude hätte verschaffen können.
DER
LÄNGSTE TAG
Das Wimbledon-Finale 2008 zwischen Rafa Nadal und Roger Federer war das längste in der 131jährigen Geschichte dieses Turniers und für viele das größte Tennismatch aller Zeiten. John McEnroe, der die Begegnung für das amerikanische Fernsehen kommentierte, fand es das beste Match, das er je gesehen hatte. Björn Borg, der als Zuschauer auf der Tribüne saß und der McEnroe im bis dahin bedeutendsten Wimbledon-Finale, an das man sich erinnern konnte, besiegt hatte, war ebenfalls der Ansicht, dass Nadal und Federer das beste Match der Geschichte bestritten hatten. Manche Vertreter der internationalen Sportpresse hielten es sogar für den besten sportlichen Wettkampf überhaupt. Die New York Times fand es so einmalig, dass es ihr einen eigenen Leitartikel wert war.
»Das Licht schwindet und obwohl jeder das kumulative Gewicht dessen spürt, was vorher war, müssen die Spieler dennoch in der Gegenwart spielen«, hieß es im Leitartikel der Times mit geradezu unheimlichem Scharfblick, »sie müssen die Vergangenheit beiseite schieben, um einen weiteren Aufschlag zu returnieren, während sämtliche Zuschauer sich fragen, wie sie es machen – nicht nur, sich den Schlag vorzustellen, sondern auch, im Geiste nicht vorzupreschen und sich Niederlage oder Sieg auszumalen. Ihr Verlangen verbirgt sich im Spiel. Aber unseres ist losgelassen und macht es schwer zu atmen – sogar schwer zuzusehen.«
Wenn schon dem Kommentator der Times das Atmen schwerfiel, ist es ein Wunder,
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