RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
ausgelaugt und mit bleiernen Waden humpelte ich vom Platz und fuhr zurück ins Hotel, geradewegs ins Eisbad. Titín machte Überstunden, um mich auf das Finale am folgenden Tag vorzubereiten, aber in diesem Moment war ich von meinem Zusammenbruch auf dem Platz so niedergeschlagen, dass ich das Gefühl hatte, keine Macht der Welt oder des Himmels könnte diese Aufgabe bewältigen.
An diesem Abend ging ich in finsterster Stimmung schlafen und wachte am folgenden Morgen kaum weniger steif auf. Als ich um 17 Uhr, zweieinhalb Stunden vor Beginn des Matchs, zu meiner letzten Trainingseinheit auf den Übungsplatz ging, fühlte ich mich kaum besser. Wieder war mir schwindelig und meine Beinmuskeln waren schwer und verhärtet – und zwar so stark, dass ich plötzlich in einem Bein Wadenkrämpfe bekam. Toni war da, und nachdem ich eine halbe Stunde lang mühsam versucht hatte, einen gewissen Rhythmus aufzubauen, erklärte ich ihm, dass ich nicht mehr könnte. Ich muss wohl furchtbar ausgesehen haben, denn er sagte: »O. k. Hören wir auf. Gehen wir zurück in die Umkleidekabine.« Und dort zeigte Toni sich der Lage gewachsen.
Die Stärke meines Onkels lag schon immer in den Worten, mit denen er mich motivierte. Gern und oft versucht er mir in Erinnerung zu bringen, dass unser wichtigstes Training in meinen Kindertagen nicht auf dem Platz stattfand, sondern während der Autofahrten zu und von den Spielen im 50 Kilometer entfernten Palma, bei denen wir unser Vorgehen planten oder analysierten, was wir falsch gemacht hatten. Ich erinnere mich, dass er mit Beispielen aus dem Fußball und von Real Madrid meine Aufmerksamkeit erregte und mir seine Vorstellungen klar machte. Und Toni hat Recht. Seine Ausführungen versetzten mich in die Lage, auf dem Tennisplatz selbst zu denken und zu kämpfen. Er zitiert gern einen spanischen Schriftsteller, der sagte, Menschen, die Kriege anfingen, seien immer Poeten. Nun ja, eine gewisse Art von Poesie setzte er nun auch bei mir in diesem anscheinend hoffnungslosen Moment ein, als der Kampf noch nicht einmal begonnen hatte, aber in meiner Vorstellung bereits verloren war.
»Hör zu«, sagte er, »jetzt ist es 17.30 Uhr, und wenn du um 19.30 Uhr auf den Platz gehst, wirst du dich kein bisschen besser fühlen, das versichere ich dir. Wahrscheinlich fühlst du dich noch schlechter. Es liegt also bei dir, ob du die Schmerzen und die Erschöpfung überwindest und den nötigen Willen aufbringst, um zu gewinnen.« Ich antwortete: »Toni, es tut mir leid, ich sehe es einfach nicht. Ich kann nicht.« »Sag nicht, du kannst nicht«, meinte er. »Denn jemand, der tief genug gräbt, findet immer die nötige Motivation für alles. Im Krieg tun Leute Dinge, die unmöglich scheinen. Stelle dir nur mal vor, im Stadion säße ein Kerl hinter dir, würde eine Waffe auf dich richten und sagen, wenn du nicht immer weiter läufst, würde er dich erschießen. Ich wette, dann würdest du laufen. Also komm! Es liegt bei dir, die Motivation zu finden, um zu gewinnen. Das ist deine große Chance. So schlecht du dich jetzt auch fühlen magst, du wirst wahrscheinlich nie wieder so gute Chancen haben wie heute, die Australian Open zu gewinnen. Und wenn auch nur eine winzige Chance besteht, dass du dieses Match gewinnst, na ja, dann musst du aus diesem Quentchen eben auch noch das Letzte herausholen.« Toni sah, dass ich zögerte, dass ich zuhörte, und drängte weiter: »Denk an Barack Obamas Satz: ›Yes, we can!‹ Sag ihn dir bei jedem Aufschlagwechsel, denn weißt du was? Die Wahrheit ist, dass du es kannst. Was du nie zulassen darfst, ist, aus mangelndem Willen zu verlieren. Du kannst verlieren, weil dein Gegner besser spielt, aber du darfst nicht verlieren, weil du nicht dein Bestes gegeben hast. Das wäre eine Sünde. Aber das wirst du nicht tun, das weiß ich. Denn du gibst immer dein Bestes, und heute wird keine Ausnahme sein. Du kannst es, Rafael! Du kannst es wirklich!«
Ich hörte zu. Es war die aufrüttelndste Predigt, die Toni mir je gehalten hatte. Ob mein Körper sonderlich viel darum geben würde, war eine andere Frage. Aber an diesem Punkt kam Joan Forcades wieder ins Spiel. Titín stand mit ihm über Skype ständig in Kontakt. Joan, der die Angewohnheit hat, seine Ausführungen mit schwierigem Fachjargon zu würzen, unterstrich die Notwendigkeit, das Match »ergonomisch« zu spielen. Damit meinte er, ich sollte meine Spielweise meiner körperlichen Verfassung anpassen, mein Tempo stärker als sonst
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