RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
bewusst kryptisch. Sein Hinweis auf Agatha Christies Krimi ist sogar ungewöhnlich anschaulich für einen Mann, der ansonsten wie selbstverständlich Begriffe wie »holistisch«, »kognitiv«, »somatische Marker«, »asymmetrisch« und »emotiv-volitiv« verwendet. Ständig sieht er Zusammenhänge zwischen der Welt des Spitzensports und Shakespeare-Tragödien, deutscher Philosophie, Thomas von Aquin oder neuesten neurobiologischen Forschungen.
»Das entscheidende beim Mord im Orientexpress ist, dass ein Mann ermordet wurde, aber ein Dutzend Leute an dem Verbrechen beteiligt waren, wie der Detektiv Hercule Poirot herausfindet – alle Verdächtigen töteten ihn«, erklärt Forcades. »Das ist die Herangehensweise, die man übernehmen muss, wenn man Rafaels Sieg in Australien und sämtliche anderen Siege ergründen will, die er in seiner Karriere errungen hat. Wenn man sich nur auf den einen Aspekt konzentriert, wie er sich körperlich erholt hat, übersieht man eine wesentlich komplexere Geschichte.«
Forcades verbringt viel Zeit mit Nadal, wenn dieser zu Hause auf Mallorca ist, ansonsten hält er sich jedoch vom Trubel und der Dramatik der internationalen Tennistour fern. Durch seine Distanz und seine analytische Denkweise ist er in Nadals unmittelbarstem Umfeld am besten geeignet, die Rolle des Hercule Poirot zu spielen und das Geheimnis des Erfolgs dieses jungen Mannes zu ergründen, den er seit über zehn Jahren trainiert. Wenn er die Belege sichtet und die Puzzleteile zusammenfügt, lässt er sich von einem Grundgedanken leiten: Das Phänomen Nadal ist größer als die Summe seiner Teile. Für Forcades ist dies das eigentlich Faszinierende – und nicht die Details von Nadals Trainingsprogramm. Er findet es langweilig – und ärgerlich – zu erklären, warum Nadal keine Gewichte hebt, nicht läuft, sondern nur sehr kurze Sprints trainiert, warum er seine Knöchel und Sehnen durch Übung X oder Y stärkt, warum er seine Muskelkraft mit bestimmen Trainingsgeräten, Vibrationsgeräten oder Gymnastikbändern fördert, um fünf Stunden mit voller Kraft spielen oder die Schnellkraft seines linken Arms maximieren zu können. Wesentlich interessanter findet Forcades die geradezu manische Intensität, mit der Nadal sein Fitnesstraining an guten wie an schlechten Tag betreibt, mit kühler Zielstrebigkeit daran arbeitet und auf dem Tennisplatz in Siege verwandelt. Das Interessanteste ist jedoch die Frage, woher das alles kommt. Ja, er ist ein großartiger Tennisspieler, aber das allein erklärt noch nicht, wieso er so viele Grand Slams gewinnt. Es gibt viele Menschen, die mit dem Talent geboren werden, Tennis auf höchstem Niveau zu spielen, und manche seiner Konkurrenten, die er regelmäßig schlägt, besitzen sicher mehr angeborenes Talent.
»Bei der Frage, wer sein Talent nutzt und wer nicht, ist es wie beim Popcorn«, meint Forcades. »Manche Körner platzen, andere nicht. Wieso ist Rafas Korn so spektakulär geplatzt?«
Die Antwort ist nicht in erster Linie in den Beinen oder Armen zu suchen, sondern im Kopf, nach Forcades Ansicht »der empfindlichste Teil des Körpers« und der wichtigste, der über Sieg oder Niederlage im Spitzensport entscheidet, vor allem in einem Individualsport wie Tennis.
»Beim Tennis geht es darum, kritische Entscheidungen zu treffen, und zwar über längere Zeit hinweg eine kritische Entscheidung nach der anderen. Kein Ballwechsel ist wie der andere, ständig müssen in Sekundenbruchteilen Entscheidungen getroffen werden. Der Spieler, der imstande ist, nach einem Fehler nicht in der Erinnerung an diesen Fehler verhaftet zu bleiben, oder der mit einem großartigen Ball in einem Satz die Führung übernimmt und den Ansturm von Euphorie beherrschen und stetig weiterspielen kann, jeden Schlag für sich unabhängig, schnell und unter brutalem Zeitdruck einschätzen kann: Das ist der Spieler, der die anderen überragt und nicht einmal, nicht zweimal, sondern auf Dauer ein Champion wird. In diesen hektischen Entscheidungsprozessen einen kühlen Kopf zu bewahren ist entscheidend, und der kühle Kopf hängt vom emotionalen Wohlbefinden ab. Das ist die wichtigste Eigenschaft, die Rafael auszeichnet. Seine Aufmerksamkeit, die er über Stunden wach hält, ist nahezu übermenschlich. Sie ist der Schlüssel zu allem.«
Wenn Nadal siegte, lag es daran, dass sein Kopf, sein Körper und seine Gefühle, die untrennbar miteinander verknüpft sind, sich in Einklang oder »in vollkommener Synergie«
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