RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
zügeln, meine Kraftreserven für die kritischeren Ballwechsel aufheben und nicht um jeden Punkt kämpfen, als sei es mein letzter. Zudem sollte ich versuchen, die Ballwechsel wegen der Risiken kürzer zu halten.
Mit diesem Plan bewaffnet, nahm ich meine übliche kalte Dusche und fühlte mich danach besser. Mit wachsendem Selbstvertrauen absolvierte ich meine gewohnten Vorbereitungsrituale in der Umkleidekabine. Und als ich auf den Platz ging, humpelte ich nicht mehr. Die Schmerzen waren noch da, und während des Einschlagens mit Federer fühlte ich mich ein bisschen schwerfällig. Mein linker Fuß – das Kahnbein – machte mir allerdings wieder zu schaffen. Aber das hatte ich früher schon erlebt und hoffte, dass das Adrenalin und meine Konzentrationsfähigkeit wieder die Oberhand über den Schmerz gewinnen würden. Noch immer fragte ich mich, ob mein Körper durchhalten würde, aber das Gute war, dass ich mich insgesamt frischer fühlte als zwei Stunden zuvor und wesentlich besser als beim Aufwachen am Vortag, nachdem ich den ganzen Morgen verschlafen hatte. Das Wichtigste aber war, dass meine destruktive Stimmung verschwunden war. Ich hatte den Willen zu gewinnen und den Glauben, dass ich es schaffen konnte, wiedergefunden. Schlagartig war die Herausforderung, meiner heiklen Lage Herr zu werden, nichts mehr, was es zu fürchten galt, sondern etwas, worauf ich hinarbeiten konnte. Tonis Predigt, Titíns Arbeit und Joans Rat hatten Wunder bewirkt.
Sobald das Match begann, traten meine Beschwerden in den Hintergrund, und zwar so weit, dass ich gleich im ersten Spiel ein Break gegen Federer schaffte. Ihm gelang zwar ein Rebreak, aber zu meiner großen Erleichterung stellte ich im Laufe des Matchs fest, dass ich nicht atemlos keuchte und meine Waden zwar noch schwer waren, aber keine Anzeichen der befürchteten Muskelkrämpfe zu spüren waren. Sie stellten sich auch nicht ein, als das Match sich über fünf Sätze hinzog. Schmerz findet letztlich im Kopf statt, sagt Titín. Wenn man den Kopf kontrollieren kann, kontrolliert man den Körper. Den vierten Satz verlor ich wie bereits gegen Verdasco, nachdem ich 2:1 in Führung gegangen war, aber ich kämpfte mich zurück, in meiner Entschlossenheit bestärkt und belebt durch meine Verwunderung und Freude darüber, dass ich es so weit gebracht hatte, ohne zusammenzubrechen. Als ich im fünften Satz 2:0 in Führung lag, drehte ich mich zu Toni, Carlos, Tuts uns Titín um und sagte gerade laut genug, dass sie es hören konnten, auf Mallorquinisch: »Ich werde gewinnen.« Und genau das tat ich. Toni hatte Recht behalten. Ja, ich konnte es. Ich gewann 7:5, 3:6, 7:6, 3:6, 6:2 und war Australian Open Champion. Zu meiner Verwunderung war ich wieder lebendig geworden und hatte meinen dritten der vier Grand-Slam-Titel gewonnen, den sechsten insgesamt.
Nach dem Match war Roger Federer mental so fertig, wie ich es körperlich vor dem Match war. An seiner Stelle wäre es mir ebenso ergangen. Er hatte einen schlechten letzten Satz gespielt, und ich hatte durch meinen Sieg über ihn meine Stellung als Nummer eins der Weltrangliste gefestigt. Aber alle, die nach dieser Niederlage anfingen, ihn abzuschreiben, und das taten einige, sollten sich irren. Er hatte noch einiges Feuer in sich. Bei diesem Match hatte er die Chance gehabt, Pete Sampras’ Rekord von 14 Grand-Slam-Titeln zu brechen, und war zumindest vorerst gescheitert. Für mich war er jedoch nach wie vor der beste Tennisspieler aller Zeiten, und das erklärte ich auch in meinen Interviews. In den folgenden beiden Jahren stellte er es unter Beweis, als er seiner Sammlung weitere wichtige Trophäen hinzufügte und Sampras’ Rekord brach.
Für mich war dieser Sieg eine wichtige Lektion – eine Lektion, die Toni mir jahrelang eingetrichtert hatte, von der ich aber nun erst begriff, wie sehr sie der Wahrheit entsprach. Ich lernte, dass man immer dranbleiben muss, so gering die Siegchancen auch sein mögen, man muss bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gehen und sein Glück versuchen. An jenem Tag in Melbourne sah ich klarer denn je, dass der Schlüssel zu diesem Sport im Kopf liegt, und wenn der Kopf klar und stark ist, kann man nahezu jedes Hindernis überwinden, auch Schmerz. Der Geist kann über die Materie triumphieren.
Eineinhalb Jahre später, vor dem Finale der US Open 2010, musste nicht ich, sondern mein Gegner Novak Djokovic die Schmerzgrenze überwinden. Er befand sich genau in der Situation, die ich vor dem
Weitere Kostenlose Bücher