Rain Song
Urlaub machen wollte. Und hatte er nicht ein Recht auf die Wahrheit? Dieser Mann hatte ihr schließlich das Leben gerettet.
»Also gut.« Hanna ließ die Kartoffel in den Topf mit Wasser gleiten, rieb sich die Hände an ihrer Hose trocken und setzte sich rittlings auf einen der Küchenstühle. »Ich bin hier, weil ich nach jemandem suche.«
»Hier, in Neah Bay?«, fragte Greg, sichtlich vor den Kopf gestoßen durch ihre plötzliche Offenheit.
»Ja, hier in Neah Bay.« Hanna schluckte und versuchte, ihr pochendes Herz zu beruhigen. »Vor fünf Jahren kam ich auf die Olympic-Halbinsel, um einen Künstler zu finden, der für das Völkerkundemuseum, für das ich arbeitete, einen Wappenpfahl schnitzen sollte. Das Museum wollte den Flug bezahlen und einen Zedernstamm besorgen, konnte aber für die Arbeit des Mannes nur einen symbolischen Preis zahlen. Damals dachte ich, dass das der Grund dafür war, warum sich die Begeisterung der Holzschnitzer, die ich entlang der Küste aufsuchte, in Grenzen hielt. Später wurde mir klar, dass es an der langen Zeit lag, die man braucht, um einen Pfahl zu schnitzen. Keiner der Künstler wollte so lange von seiner Heimat entfernt sein. Die Quinault redeten sich damit heraus, dass es in ihrem Volk keinen Holzbildhauer gäbe; der Schnitzer der Hoh hatte zu viele Aufträge und der junge Mann bei den Klallam war gerade Vater geworden und wollte seine Frau nicht allein lassen – was ich gut verstehen konnte. Erst ganz zuletzt, hier in Neah Bay, hatte ich endlich Erfolg.«
Hanna richtete ihren Blick auf die Bäume hinter der Fensterscheibe. »Ein Holzschnitzer aus Neah Bay erklärte sich bereit, mich zu begleiten«, fuhr sie fort. »Sein Name war Jim Kachook und sein Können hatte sich bereits bis nach Seattle herumgesprochen. Ich war stolz auf mich, dass ich trotz allem jemanden gefunden hatte, noch dazu so einen hervorragenden Künstler wie Jim. Doch sein Meister, der Holzschnitzer Matthew Ahousat, war dagegen, dass Jim nach Deutschland reisen und für längere Zeit fortbleiben würde. Vor meinen Augen kam es zwischen beiden zu einem heftigen Streit und im Grunde sah ich meine Felle davonschwimmen.« Sie hatte die Szene von damals deutlich vor Augen, Jims entschlossenen Blick, das aufgebrachte Gesicht des Meisterschnitzers. »Wider Erwarten kam Kachook mit mir«, fuhr sie fort. »Es schien, als wollte er dem alten Mann und sich selbst etwas damit beweisen.«
Greg – er hatte Hanna den Rücken zugewandt – erstarrte zur Steinsäule. Er spürte, wie das Blut aus seinen Wangen wich und seine Beine nachzugeben drohten. Mit den Händen hielt er sich am Rand der Spüle fest. In seinem Inneren arbeitete es.
Das ist nicht möglich.
»Während Jim an seinem Pfahl arbeitete, wohnte er bei mir und wir verliebten uns«, sagte Hanna mit leiser, zerbrechlicher Stimme.
Greg, sonst ein Meister der Selbstbeherrschung, zitterte und seine Gesichtsmuskeln zuckten unkontrolliert. Das Adrenalin ließ sein Blut jetzt heftig kreisen. Mit einem Ruck drehte er sich um und warf Hanna einen anklagenden Blick zu.
»Der Holzschnitzer Matthew Ahousat ist mein Vater und Sie befinden sich in seinem Haus«, stieß er hervor. »Jim Kachook ist Matthews Ziehsohn und er war wie ein Bruder für mich. Es ist Ihre Schuld, dass wir ihn verloren haben.«
Hanna riss den Kopf hoch und starrte ihn mit ihren großen Kinderaugen verwirrt an. Sie war leichenblass geworden, was die Sommersprossen auf ihrem Gesicht noch dunkler erscheinen ließ. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine scharfe senkrechte Linie gebildet.
»Was sagen Sie da?« Sie schloss kurz die Augen und öffnete sie gleich wieder. »Ahousat ist Ihr Vater? Und Jim …?«
Greg sah den überraschten Schmerz in ihren Augen, die sich verdunkelten. Und da war noch etwas in ihrem Blick: die jähe Farbe der Angst.
»Was meinen Sie damit: Sie haben ihn verloren? Ist er etwa …« Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie einen unerträglichen Gedanken abwehren.
Greg griff nach dem Messer auf dem Tisch und ein rauer Laut kam aus Hannas Kehle. Wütend hieb er es in die Arbeitsplatte.
»Nein, er ist nicht tot, verdammt. Sie haben ihn nach Deutschland geholt und er ist niemals zu uns zurückgekommen. Wo ist Jim, Hanna?«
Greg spürte, wie Trauer und Schmerz ihn überwältigten und sein Gesicht sich verzerrte. Er hasste sich dafür, dass Hanna ihn so sah. Sie hatte eine alte, nur schwer verheilte Wunde wieder aufgerissen. Sie war dieFrau, die Jim mit nach Deutschland
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