Rain Song
genommen hatte. Greg hatte sie aus dem Meer gefischt und nun saß sie hier, in seinem Haus, und er kochte für sie. Ironie des Schicksals. Er konnte daran ebenso wenig ändern wie am übrigen Lauf der Dinge.
»Aber ich weiß nicht, wo er ist.«
»Was soll das heißen: Sie wissen es nicht?« Auf einmal war er sich nicht mehr so sicher, dass Jim bei dieser Frau in Deutschland war. Gar nichts mehr war sicher.
»Wenn ich es wüsste, würde ich dann hier nach ihm suchen?« Hanna kaute auf ihrer Unterlippe und ihr Blick wanderte zum Messer, das im Brett steckte. Hilflosigkeit und leiser Zorn schwangen in ihrer Stimme mit, als sie sagte: »Ja, ich weiß, dass Jim länger geblieben ist als beabsichtigt, aber das war nicht meine Schuld. Für die Arbeit am Pfahl waren drei Monate angesetzt worden, doch Jim konnte so fern seiner Heimat nur schlecht arbeiten. Manchmal war er tagelang unfähig, auch nur einen Handgriff zu tun. Also wurden aus drei Monaten sechs, bis der Pfahl endlich fertig war und vor dem Museum aufgestellt werden konnte. Danach reiste er sofort zurück nach Hause. Das ist die Wahrheit.« Sie fiel in sich zusammen. »Er versprach mir, mich ein paar Wochen später nachzuholen. Wir wollten heiraten.«
»Sie wollten – was?«, presste Greg hervor. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander und er versuchte, einen Sinn in ihren Worten zu erkennen. »Sie wollten hier mit ihm leben? Hier – am Ende der Welt?«
»Ja, das wollte ich – weil ich Jim liebte und wusste, dass er nirgendwo anders glücklich werden konnte. Für ihn war es nicht das Ende der Welt, Greg. Für ihn war Neah Bay der Anfang der Welt.«
Hanna wandte den Kopf zur Seite und er sah die störrische Haltung ihres Kinns. »Ich habe ihn zum Flughafen gebracht und ihn in den Flieger steigen sehen. Ich weiß auch, dass er auf dem Sea-Tac Airport angekommen ist. Er hat mich von dort aus angerufen und wollte sich einen Leihwagen nehmen. Verunglückt ist er nicht, denn der Wagen wurde ein paar Tage später am Flughafen wieder abgegeben.« Sie hob die Schultern und ließ sie mit einem resignierten Seufzer wieder sinken. »Mehr konnte ich von Deutschland aus nicht herausbekommen. Es genügte mir auch. Ich war davon überzeugt, dass Jim mich nicht mehr wollte. In Deutschland hatte er mich gebraucht – er hat bei mir gewohnt und von meinem Geld gelebt. In seiner Heimat war das nicht mehr nötig«, fügte sie im Flüsterton hinzu.
»Aber hier in Neah Bay ist er niemals angekommen«, sagte Greg gequält. »Wo zum Teufel ist er geblieben?«
»Um das herauszufinden, bin ich hier«, antwortete Hanna und sah ihn wieder an.
»Nach beinahe fünf Jahren?« Greg musterte sie misstrauisch. Sein Zorn war verflogen und hatte einer großen Ratlosigkeit Platz gemacht. »Haben Sie so lange gebraucht, um zu erkennen, was er Ihnen bedeutet?«
Hanna wich seinem Blick nicht aus. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Wir haben viel Zeit«, sagte Greg mit unnachgiebiger Stimme. »Ich muss alles wissen.«
Regentropfen schlugen prasselnd gegen die Panoramascheibe. Sie hatten gegessen und Hanna hatte ihm alles erzählt. Er hatte schweigend zugehört und sie nur zwei- oder dreimal unterbrochen, um ihr eine Frage zu stellen. Danach waren sie in den Wohnraum umgezogen und Greg hatte das Feuer im Kamin wieder in Gang gesetzt.
Jetzt saß er im Sessel unter der Stehlampe. Er hielt Fotos in seinen Händen und seine Hände zitterten. Jim mit Hanna in der großen Stadt. Die beiden zusammen in Hannas Wohnung. Jim auf dem Gelände des Völkerkundemuseums bei seiner Arbeit am Pfahl. Und dann Fotos von Ola, seiner und Hannas Tochter.
Jim hat eine Tochter.
Tief berührt drehte Greg das Foto der Dreijährigen zwischen den Fingern. Sie ähnelte ihrem Vater auf verblüffende Weise. Wieso hatte er es nicht bemerkt, als er das Foto des kleinen Mädchens das erste Mal in den Händen gehalten hatte? Diese dunklen Augen, der forschende Blick. Ohne Zweifel war sie Jim Kachooks Tochter. Rein äußerlich schien Ola von ihrer Mutter nichts weiter geerbt zu haben, als eine hellere Haut und den zarten Knochenbau.
»Er hat sie nach seiner Mutter benannt«, bemerkte Greg leise. Seine Seele lag bloß, wie ein Fels im Meer, den die Ebbe freigegeben hatte.
»Jim wusste nicht, dass ich schwanger war«, entgegnete Hanna. »Ich habe sie nach seiner Mutter benannt.«
Überrascht sah er auf. »Er hat dir von seiner Mutter erzählt?«
»Nein«, Hanna schüttelte traurig den Kopf. »Ihren Namen
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