Rain Song
unsere Vorfahren getan haben.«
»Anhäufung von Reichtum als Mittel zum Erwerb von Ansehen«, sagte Hanna. »Das Prinzip der alten Westküstenstämme.«
»Ja, aber nur, um mit dem erreichten Ansehen seine Missachtung gegenüber materiellen Dingen zu zeigen.« Greg hockte sich vor den Kamin und legte neue Scheite aufs Feuer. Funken sprühten und es knackte laut.
»Und die anderen im Ort verstehen das nicht?«
Greg schüttelte den Kopf. »Viele von ihnen leben am Existenzminimum. Wie sollen sie das hier verstehen? Die alte Ordnung, nach der ein paar wenige Hochgeborene über die Verteilung von Macht und Glück entschieden, funktioniert heute nicht mehr.« Er zögerte. Im Grund genommen wusste er selbst nicht, warum er Hanna das alles erzählte, aber es war ihm wichtig. »Heute gibt es zum Glück keine Einteilung in Klassen mehr. Ranghoch oder nicht – die meisten Leute in Neah Bay versuchen, zu arbeiten und ein würdevolles Leben zu führen. Durch dieses Haus grenzen wir uns von den anderen ab.«
In der Küche rumpelte der Geschirrspüler, er schien Gregs Feststellung noch zu untermalen.
»Wenn dir das unangenehm ist, wieso baust du dann kein eigenes Haus und zeigst den anderen, dass du so bist wie sie?«, fragte Hanna ganz pragmatisch.
Greg erhob sich und stellte sich vor das Fenster, mit dem Rücken zum Raum. Dann breitete er die Arme aus und lehnte sich mit offenen Händen gegen die riesige Scheibe. Der Regen hatte nachgelassen. Nachdenklich starrte Greg auf den Pazifik hinaus.
»Weil es nicht stimmt. Ich bin nicht wie sie«, sagte er schließlich. Er wandte sich um und sah Hanna an.
Sie biss sich auf die Lippen, ihre Pupillen waren starr auf ihn gerichtet. Sie verstand ihn nicht, das spürte er.
Hanna stand auf. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe«, sagte sie. »Ich werde mich im Clamshell Motel einquartieren und gleich ins Bett gehen. Wenn ich Fragen habe, kann ich dann …«
Greg notierte etwas auf einen Zettel. »Meine Telefonnummer. Du kannst es aber auch in der Werkstatt versuchen.«
Sie nahm den Zettel und steckte ihn ein. »Danke für deine Gastfreundschaft und alles, was du für mich getan hast.«
Er nickte.
Sie ging ins Bad, um ihre Sachen zusammenzupacken. Greg begleitete sie zur Tür.
»Auf Wiedersehen, Greg.« Sie griff nach dem Knauf und öffnete die Tür. Frische Regenluft strömte in die Diele.
Obwohl Greg noch so viele Fragen hatte, war er froh, dass Hanna ging. Er musste alles, was er erfahren hatte, erst einmal verarbeiten.
»Hanna?«
»Ja?« Sie wandte sich um und sah ihn an.
Seine Kehle war ganz rau. »Hast du Jim wirklich geliebt?«
Hanna bekam feuchte Augen. »Ja«, sagte sie, »ich liebte ihn sehr. Für sechs Monate und noch lange darüber hinaus, war Jim Kachook der wichtigste Mensch in meinem Leben. Aber anscheinend hat ihm das nicht genügt.«
Neben Hannas Leihwagen stand Gregs weißer Pick-up. Jemand musste ihn gebracht haben, ohne hereingekommen zu sein. Sie warf ihre Tasche auf den Rücksitz ihres Wagens und stieg ein. Ein dichter Vorhang aus Nieselregen nahm ihr die Sicht, als sie losfuhr, und sie stellte die Scheibenwischer an. Dunkle Wolken bedeckten den Himmel. Das Wetter auf der Olympic-Halbinsel wurde vom Meer und den Bergen bestimmt, was häufig Regen bedeutete. Sonnentage waren rar, aber die Menschen hier hatten sich daran gewöhnt. Jim hatte ihr von endlosen Regentagen erzählt, aber erst jetzt bekam sie eine Ahnung davon, wie bedrückend das Wetter sein konnte.
Sie fuhr die hundert Meter Schotterweg von Gregs Haus bis zur asphaltierten Straße und bog nach links in Richtung Neah Bay. Nach ein paar Meilen passierte sie den Campingplatz am Hobuck Beach, auf dem eine Handvoll bunte Zelte standen. Sie bedauerte die Camper, denn bei solch miesem Wetter machte das Zelten mit Sicherheit keine Freude.
Die Straße, die sie fuhr, war die kürzeste Verbindung zwischen den beiden großen Buchten des Reservats. Neah Bay im Nordosten, am Eingang der Straße von Juan de Fuca gelegen, und Makah Bay im Südwesten, in der die beiden Strände Hobuck Beach und Sooes Beach lagen.
Kurz nachdem Hanna die Holzbrücke über den Waatch River passiert hatte, tauchte zur Linken der Sitz der Stammesregierung auf, der in den ehemaligen Gebäuden eines Militärstützpunktes untergebracht war. Dahinter erhoben sich grün und mächtig die Zwillingsberge Archawat Peak und Bahokus Peak mit ihren regenverhangenen Gipfeln.
Sie fuhr drei Meilen entlang der sumpfigen
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