Rain Song
hätte Jim gesehen, und nun behauptete sie, es wäre ein Geist gewesen.
»Was denkst du, Grace? Soll ich aufhören, nach Jim zu suchen?«
Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Sie dürfen jetzt nicht aufgeben. Nicht nur Sie wollen wissen, was aus Jim geworden ist.« Sie schaute sich im Raum um. »Wo ist Greg?«
»Nach Hause gefahren, ein paar Sachen holen.«
»Lieben Sie ihn?« Grace Allabushs dunkle Augen musterten sie eindringlich.
Hanna fragte sich, ob sie mit einem fünfzehnjährigen Mädchen, von dem sie nichts wusste, über ihre Gefühle reden sollte, doch letztendlich hatte sie nichts zu verlieren.
Ihre eigene Stimme kam ihr fremd vor, als sie sagte: »Ja, ich habe mich in Greg Ahousat verliebt. Aber keine Angst, ich werde nicht denselben Fehler zweimal machen. Greg gehört nach Neah Bay.«
Grace spielte mit dem Wasserglas. »Sie können ja hierbleiben, bei ihm.«
Überrascht musterte Hanna das Mädchen. Grace Allabush glaubte also an die Liebe jenseits alter Tabus und moderner Voreingenommenheit. »Ist das dein Ernst?«, fragte sie.
Grace zuckte mit den Achseln. »Ja, na klar.«
Hanna entspannte sich ein wenig. »Ich bin froh, dass du so denkst, Grace«, sagte sie, »aber du hast Greg dabei vergessen. Er muss es auch wollen.«
Das Mädchen schien ehrlich enttäuscht zu sein. »Greg will nicht, dass Sie bei ihm bleiben?«
»Wir haben nichts miteinander.«
Die Verwunderung stand Grace ins Gesicht geschrieben. »Wirklich nicht? Kein Kuss, gar nichts?«
Gar nichts stimmt nicht. Hanna erinnerte sich daran, wie er sie aus dem Wasser gefischt hatte, es schien eine Ewigkeit her zu sein. Sie hatte sich in Greg verliebt, das war ihr längst klar geworden, und sie war bereit für eine neue Liebe. Doch sie wusste nicht, ob er genauso fühlte. Sie dachte an Gregs Blicke am Morgen, in denen Begehren gelegen hatte, und an seine merkwürdige Zurückhaltung seit diesem einen, heftigen Kuss.
»Ein einziger Kuss«, sagte Hanna, mehr zu sich selbst, »aber ich weiß nicht, was er bedeutet hat.«
Grace rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Denken Sie, ein Mann und eine Frau können ein Leben lang zusammenbleiben?«
Die Frage verblüffte Hanna. Nachdenklich sah sie Grace an, sie hatte keine Ahnung, worauf das Mädchen hinauswollte. »Es ist niemals leicht«, antwortete sie, »aber es gibt Männer und Frauen, die schaffen es.«
»In meiner Familie hat es bisher niemand geschafft«, bemerkte Grace und machte ein mürrisches Gesicht. »Die Frauen sind immer allein gewesen.«
Hanna war die unterschwellige Frage in der Stimme des Mädchens nicht entgangen. »Vielleicht sind sie sehr stark. Zu stark, um einem Mann Raum an ihrer Seite zu lassen.«
Grace sah Hanna offen ins Gesicht. »Wenn ich stark bin, wird es mir dann genauso ergehen?«
Hanna schüttelte den Kopf. »Das muss es nicht, Grace. Du kannst mit dieser Tradition brechen, das liegt ganz allein an dir und daran, was du dir vom Leben wünschst.« Hanna zog ein Bein an ihren Körper und schlang die Arme darum.
Grace sagte nichts.
Irgendetwas bedrückte das Mädchen, das spürte Hanna instinktiv. »Wie heißt er denn?«
»Joey. Joey Hunter.«
»Der Neffe vom Polizeichef?« Hanna erinnerte sich daran, dass Grace ihn erwähnt hatte.
Grace nickte.
»Und deine Granny, die mag ihn nicht?«
Grace presste die Lippen zusammen.
»Du kannst nicht mit mir darüber reden, das ist okay«, sagte Hanna, weil sie das Mädchen nicht weiter bedrängen wollte. »Dein Joey ist bestimmt ein prima Bursche und das Wichtigste ist, dass du ihn liebst. Was auch immer deine Urgroßmutter gegen ihn einzuwenden hat – du bist nicht wie sie. Du weißt viel mehr, weil du auch nach vorn siehst, während sie immer nur zurückblickt.«
Grace hob den Kopf. »Granny ist alt. Wenn sie nach vorn blickt, sieht sie den Tod, deswegen schaut sie lieber zurück. Manchmal wird sie wunderlich und erinnert sich an Dinge, die gar nicht passiert sind. Sie behauptet, meine Mutter wäre tot, dabei ist sie mit einem Weißen fortgegangen.«
Hanna dachte daran, wie hart Gertrude ihr gegenüber gewesen war. Wie sehr musste es die alte Frau getroffen haben, dass ihre eigene Enkeltochter mit einem weißen Mann fortgegangen war.
»Und du willst nicht weg?«
»Nein, ich bin zufrieden mit dem, was ich habe.« Grace erhob sich mit einem Ruck. »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie. »Heute Abend ist das Potlatch und ich muss noch Beerenküchlein backen.«
Auch Hanna stand auf. »Wie bist du
Weitere Kostenlose Bücher