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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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konnte sie ihn lehren, meine Eltern und sogar meine Großeltern kannten nur ein paar gebräuchliche Worte. Also verbrachte er jeden Tag mehrere Stunden bei einer uralten Frau hier aus dem Ort. Er half ihr bei den täglichen Arbeiten und sie brachte ihm die Sprache bei. Die komplizierten Worte schienen ihm keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten. Jim war schnell von Begriff.«
    Paul kehrte dem Dorf den Rücken und setzte sich in Bewegung. Greg und Hanna tauschten einen Blick und folgten ihm den Strand entlang. Ein Haufen Fischabfälle am Ufer verbreitete penetranten Gestank und Paul machte einen großen Bogen darum.
    »Aber die Sprache war nicht alles, worauf Jim versessen war«, fuhr Paul fort. »Als er sieben oder acht war, begann er zu schnitzen. Mit zehn hatte er sich in den Kopf gesetzt, Holzschnitzer zu werden.« Paul lächelte. »Alles, was Jim in Angriff nahm, tat er mit Leidenschaft. Er bat unseren Vater, ihm ordentliches Werkzeug zu kaufen, damit er bei Wilson Wadish – dem Meisterschnitzer aus unserem Dorf – in die Lehre gehen konnte. Eine Zeit lang versuchte mein Vater, ihm die Sache auszureden, aber Jim ließ nicht locker. Er wusste, dass er das Zeug dazu hatte, ein Meister zu werden. Es war sein Traum, seine Bestimmung. Alles, was er wollte, war schnitzen.« Paul schwieg einen Moment, als würde er überlegen, ob er weiterreden sollte oder nicht. Schließlich tat er es.
    »Eines Tages nahm ihn mein Vater beiseite und versuchte, ihm zu erklären, warum er kein Holzschnitzer werden konnte.« Paul war stehen geblieben. Hanna und Greg sahen Jims Bruder erwartungsvoll an.
    »Es hat etwas mit der Vergangenheit zu tun«, sagte er, »und es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen. Die Vorfahren unserer Familie waren Sklaven.« Er stemmte die Hände in die Hüften und sah Hanna herausfordernd an. »Ich nehme an, davon hat er Ihnen nichts erzählt.«
    Hanna stockte der Atem, und als sie Greg ansah, wusste sie, dass ihn diese Offenbarung ebenso verblüffte. Sie schüttelte den Kopf.
    »Sklaven waren von niederem Wert in unserer Kultur«, sagte Paul, weiter an Hanna gewandt. »Sie hatten keinerlei Rechte und Privilegien. Das alles ist natürlich längst Geschichte, aber die langen Arme der Vergangenheit greifen manchmal noch in unser heutiges Leben ein. Auch wenn es offiziell niemand zugeben würde: dass ein Nachfahre von Sklaven die Würde eines Holzschnitzers erlangt, ist immer noch ein Tabubruch.«
    »Und das ist der Grund?«, fragte Hanna entgeistert. »Jim ging fort und verleugnete seine Familie, weil er Wappenpfähle schnitzen wollte?«
    »Ja. Meisterschnitzer kann nur werden, wer von hohem Geburtsrang ist«, sagte Paul. »Für jemanden, der mit unserer Kultur nicht vertraut ist, mag sich das bizarr anhören. Aber so ist es. Auf Anaqoo hatte Jim keine Chance. Jeder hier weiß über die Vorfahren unserer Familie Bescheid.«
    »Aber das alles ist doch schon so lange her«, sagte Hanna aufgebracht. »Ich kann nicht glauben, dass ihr euch dem Diktat der Vergangenheit immer noch fügt.« Das Gespräch mit Grace Allabush ging ihr durch den Kopf und sie wurde den Verdacht nicht los, dass auch in Neah Bay die langen Arme der Vergangenheit ihre Finger im Spiel hatten, wenn der Freund des Mädchens nicht zum Potlatch eingeladen wurde.
    Paul reagierte mit einem Achselzucken. »Jim fügte sich nicht. Er ging zu Wilson Wadish und bat ihn, ihm das Schnitzen beizubringen. Wadish lehnte ab. Nicht nur das, der Meisterschnitzer war entzürnt darüber, dass Jim es überhaupt gewagt hatte, ihn zu fragen. Damals musste Jim klar geworden sein, dass die alten Traditionen nicht einfach zu übergehen waren. Und er fasste diesen Plan.«
    »Jim rettete mir das Leben«, sagte Greg, »es passierte während eines Sturms.« Er erzählte Paul, wie Jim nach Neah Bay gekommen war. Hanna merkte, dass es ihm nicht leichtfiel, die Wahrheit zu sagen, weil sie so viel zerstörte. Sie wagte sich nicht auszumalen, wie viel von Gregs eigenen Gefühlen für Jim in den letzten Augenblicken zerstört worden waren.
    »Ich glaube, er hatte sich meinen Vater vorher genau ausgesucht. Ich weiß nicht, wie er es angestellt hat, dass niemand auf ihn aufmerksam geworden ist und dass er während des Sturmes zur rechten Zeit am rechten Ort war. Vielleicht hat er mich schon eine ganze Weile beobachtet. Alles war perfekt eingefädelt.«
    Paul nickte, als würde ihn das nicht verwundern. »Er war wie besessen. Glück war für Jim erst dann möglich, wenn er
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