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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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Parkplatz. Laut Nummernschild stammte er aus Colorado. Touristen. Er hoffte, dass es ihnen gut ging.
    Hunter benutzte den Wanderweg, um hinunter ans Kap zu gelangen. Er hätte auch den schmalen, steinigen Pfad am Rand der Steilküste wählen können, aber das wäre zeitaufwendiger und vor allem lebensgefährlich gewesen. Oren Hunter wollte zwar seiner Pflicht nachgehen, aber er wollte auch unversehrt seine Pension antreten und mit seiner Frau noch ein paar ruhige Jahre verbringen. Er wollte fischen und vielleicht ein Stück vom übrigen Amerika kennenlernen. Zwar hatte ihn sein Beruf schon in Städte wie Denver, Milwaukee und Los Angeles geführt, aber Städte interessierten ihn nicht. Die vielen Menschen machten ihm Angst. Und erst recht die Art der Verbrechen, die in solchen Hexenkesseln verübt wurden.
    Hunter war sich durchaus darüber im Klaren, was für einen ruhigen Job er all die Jahre hier am Ende der Welt gehabt hatte. Nur vier unnatürliche Todesfälle in seiner ganzen Amtszeit. Darauf war er ungeheuer stolz. Die Leute, die bei den Felsen und Seemöwen leben, waren keine Mörder.
    Natürlich gab es da zwei Handvoll Leute aus Neah Bay, die eine Strafe im Gefängnis von Clallam County absaßen. Die Hälfte von ihnen waren Jugendliche, die außerhalb des Reservates auf die falsche Bahn geraten waren. Alkohol und Drogen verderben den wahren Charakter eines Volkes, hatte er immer zu Hildred gesagt.
    Nach ihrer Entlassung kehrten die jungen Männer nach Neah Bay zurück und Hunter kümmerte sich persönlich um sie. Er sorgte dafür, dass ihre Familien sie wieder aufnahmen, dass sie einen Job bekamen oder wenigstens eine Beschäftigung, mit der sie ihre Zeit ausfüllen konnten. In den meisten Fällen wurden anständige Menschen aus ihnen.
    Manchmal passierte es aber auch, dass ein junger Mensch überhaupt keinen Zugang mehr zu seinem Volk und den alten Bräuchen fand. Derjenige war für immer verloren. Abgeschnitten von den Geistern des Landes, büßte er seine Seele ein und dann konnte ihn nur noch ein Wunder retten.
    Hunter sah auf, als er Stimmen vor sich hörte. Das Ehepaar aus Colorado kam ihm entgegen und er grüßte erleichtert. Sie nahmen nicht weiter Notiz von ihm, denn er trug seine Uniform nicht.
    Am Kap überprüfte Hunter das Geländer, versicherte sich gründlich, dass niemand in der Nähe war, und hockte sich in das geräumige Innere eines Strauches mit dichten immergrünen Blättern. Dieses Versteck hatte er schon vor einiger Zeit entdeckt. Gut getarnt konnte er so jeden beobachten, der sich am Geländer zu schaffen machte. Zudem konnte er von hier aus dem Täter den Fluchtweg abschneiden. Die anderen drei Seiten wurden vom Meer begrenzt. Wollte sich jemand von hier aus dem Staub machen, musste er zwangsläufig an Hunter vorbei.
    Der Chief machte es sich einigermaßen bequem und richtete sich auf eine lange Wartezeit ein. Still zu sitzen war kein Problem für ihn. Er hatte es schon gelernt, als er noch ein kleiner Junge war und sein Vater ihn mit zum Angeln auf die Felsen vor der Küste genommen hatte. Oren Hunter mochte es, einfach nur dazusitzen und seinen Gedanken nachzuhängen. Dabei war er mitunter zu erstaunlichen Schlüssen gelangt.
    Doch diesmal war er sich sicher, dass etwas passieren würde. Das Kribbeln in seinem großen Zeh wurde immer unerträglicher. Hunter hoffte inständig, dass sein Instinkt nicht versagt hatte und er sich auch am richtigen Ort befand.
    Dem Ort der Geister.
    Nach zwei vollkommen ruhigen Stunden überkamen Hunter die ersten Zweifel. Es wurde dunkel und niemand würde so spät noch ans Kap kommen. Was, wenn er nur seine Zeit verschwendete? Aber da er sich fest vorgenommen hatte auszuharren, verließ er sein Versteck nicht. So lautlos wie möglich wickelte er seine Sandwichs aus, biss in eins hinein und begann zu kauen. Um ihn herum war es still, Hunter hörte nur die Mahlgeräusche seines Kiefers.
    Doch schon wenig später füllte sich die Dunkelheit mit Leben. Für den Polizeichef kein Grund zur Besorgnis. Er war hier aufgewachsen und kannte die Geräusche. Die Nachttiere begannen ihre Aktivitäten, die Flut stieg und das Meer begann zu sprechen. Die Stimmen des Wassers offenbarten Dinge, die nur die Alten der Makah noch verstehen konnten.
    Plötzlich stockte Hunter der Atem. Er schluckte den letzten Bissen hinunter und lauschte in die Dunkelheit. Seine ganze Aufmerksamkeit gehörte wieder der Gegenwart. Jemand kam den Pfad herunter. Er hörte Tritte, Flüstern und
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