Rain Song
gewesen. Das letzte Lebenszeichen, das wir von ihm haben, ist eine Karte aus Deutschland. Er ist wegen einer Frau dorthin gegangen. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.«
Weder Hanna noch Greg sagten etwas.
Einen Augenblick lang schaute Paul ins Leere. »Als Jim das erste Mal verschwand, war er nicht mal fünfzehn und es brach meiner Mutter das Herz. Er hatte uns einen Brief hinterlassen, in dem er schrieb, dass er schnitzen wollte, und weil er es auf Anaqoo nicht durfte, woanders sein Glück versuchen müsse. Einige Jahre sahen wir ihn nicht wieder und in dieser Zeit starb unsere Mutter.
Irgendwann tauchte Jim dann wieder auf. Er hatte Geld – viel Geld – und versuchte, seine Schuld damit zu begleichen.«
Paul schüttelte kaum merklich den Kopf. »Erst, als er mit der Wahrheit herausrückte, fanden mein Vater und ich die Kraft, ihn zu verstehen – so absurd seine Geschichte auch war. Aber vor fünf Jahren ist Jim ein zweites Mal verschwunden.« Er warf einen Blick zur Tür. »Mein Vater war lange krank und ist seitdem um viele Jahre gealtert. Ich möchte nicht, dass er das alles noch einmal durchmachen muss.«
Hanna merkte, dass Paul sie beide am liebsten aus dem Haus gewiesen hätte, so aufgebracht war er. Aber die Regeln der Höflichkeit verboten es ihm. Hanna zog ein Foto aus ihrem Rucksack und gab es Paul.
Mit fester Stimme sagte sie: »Paul, das ist deine Nichte Ola. Sie ist fast vier Jahre alt und lebt in Deutschland. Jim weiß nichts von seiner Tochter. Er flog in die Staaten zurück, um mich später nachzuholen. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Deshalb habe ich mich auf die Suche gemacht.«
Paul betrachtete erst das Foto, dann musterte er Hanna. Sein Ärger schien verflogen zu sein, geblieben war Ratlosigkeit. Wie gut sie ihm die nachfühlen konnte.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Hilfe suchend sah er sich nach seiner Frau um, die dem Gespräch schweigend gefolgt war. Fanny blickte ihn nur mit großen Augen an.
»Hat Jim dir je von Matthew und Greg Ahousat erzählt?«, fragte Greg.
Paul nickte. »Er sprach viel von einem Mann, der ihn das Schnitzen lehrte. Und von dessen Sohn, der wie ein Bruder für ihn war. Aber er nannte uns keine Namen.«
»Aber wieso?« Greg sprang auf. »Warum das Versteckspiel? Hat er vielleicht jemanden getötet und musste deshalb von hier verschwinden?« Er begann auf und ab zu laufen, während Hanna kaum zu atmen wagte. Glaubte Greg wirklich, dass Jim ein Mörder war?
Paul schüttelte den Kopf. »Das war es nicht.«
»Du kennst also den Grund?« Greg ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.
»Ich kenne ihn. Aber ich weiß nicht, ob ich das Richtige tue, wenn ich Jims Geheimnis preisgebe. Wir hoffen immer noch, dass er zurückkehrt. Ich will ihm sein Leben nicht verbauen.«
Sein Leben nicht verbauen? Hanna glaubte, sich verhört zu haben. Sie wollte etwas erwidern, doch ein alter Mann betrat das Haus und Paul brach mit einer rigorosen Geste das Gespräch ab. Er stellte Greg als einen Freund vor, und nachdem man ein paar Höflichkeiten ausgetauscht hatte, verließ Paul zusammen mit Greg und Hanna das Haus. Jims Bruder lief hinunter zum Strand und sie folgten ihm.
»Sollte der alte Mann nicht die Wahrheit erfahren?«, fragte Hanna unsicher.
»Was für eine Wahrheit?«, wollte Paul wissen.
»Dass er eine Enkeltochter hat.«
Paul hob die Hände zu einer verzweifelten Geste. »Eine Enkeltochter, die seine Sprache nicht spricht und die er niemals sehen wird? Glaubt ihr nicht, dass das sein Herz noch schwerer machen wird?«
Greg bohrte seine Schuhspitze in den Sand und grub eine Muschel aus. »Hör zu«, sagte er zu Paul. »Hanna hat einen sehr weiten Weg gemacht, um etwas über Jim herauszufinden. Es ist ihr und ihrer Tochter gegenüber nicht fair, dass du schweigst.« Er holte tief Luft. »Und mir gegenüber ist es auch nicht fair. Weder Hanna noch ich würden etwas tun, das Jim schadet.«
Paul schwieg. Er schien nachzudenken. Nach einer Weile sagte er: »Also gut, ich werde euch alles erzählen. Aber vorher muss ich noch etwas wissen. Wo ist er gewesen, all die Jahre? Ich meine, bevor er verschwand.«
»Nicht weit von hier«, erwiderte Greg, »Mein Vater und ich sind Makah aus Neah Bay.«
Paul stieß ein bitteres Lachen aus. »Es will mir nicht in den Kopf. Die ganze Zeit war er so nah. Aber doch – es macht Sinn.«
»Wieso?«
»Jim war schon als Kind versessen darauf, unsere alte Sprache zu lernen. Niemand aus unserer Familie
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