Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
wich Tats Blick aus, indem sie zu dem Mann trat, ihm ihren Vertrag zeigte und sagte: »Ich brauche den Zettel für meine Provianttasche.«
Die Proviantpakete hatten den Namen kaum verdient. Die Leinentaschen waren grob zusammengenäht und mit einer Art Wachs behandelt, um Wasser abzuweisen. Darin befanden sich eine Decke, ein Wasserschlauch, ein billiger Blechteller und ein Löffel, ein Waldmesser, eine Packung mit Zwieback, Trockenfleisch und Dörrobst. »Bin ich froh, dass ich von zu Hause meine eigene Verpflegung mitgebracht habe«, sagte Thymara gedankenlos. Erst als sie Tats’ Gesichtsausdruck sah, zuckte sie zusammen.
»Besser als nichts«, erwiderte er schroff, und Rapskal, der sich an sie geheftet hatte wie eine Zecke an einen Affen, setzte begeistert hinzu. »Meine Decke ist blau. Meine Lieblingsfarbe. Was für ein Glück!«
»Sie sind alle blau«, meinte Tats, worauf Rapskal nickte.
»Wie schon gesagt, was für ein Glück, dass Blau meine Lieblingsfarbe ist.«
Thymara unterdrückte ein Augenrollen. Es war allgemein bekannt, dass Menschen, welche die Regenwildnis schwer gezeichnet hatte, mitunter auch geistig angegriffen waren. Vielleicht war Rapskal ein bisschen einfältig oder in seinem extremen Optimismus ein notorischer Draufgänger. Im Moment machte ihr seine gute Laune Mut, auch wenn ihr sein Geplapper auf die Nerven ging. Sie war erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich ihr und Tats angeschlossen hatte. Denn sie war es gewohnt, dass ihr die Leute mit großer Zurückhaltung begegneten und auf Abstand blieben. Selbst die Kunden, die auf den Märkten bei ihnen einkauften, kamen höchstens bis auf Armeslänge an sie heran. Doch Rapskal berührte praktisch ihren Ellbogen, und jedes Mal, wenn sie sich zu ihm umwandte, grinste er wie ein Astaffe. Seine tanzenden blauen Augen schienen ihr bedeuten zu wollen, dass sie ein Geheimnis miteinander teilten.
Sie hockten auf einem Fleck nackter Erde, zwölf gezeichnete Regenwildleute, die meisten unter zwanzig, und Tats. Sie waren zum Waldboden hinabgestiegen, um ihre Provianttaschen entgegenzunehmen. Deren Inhalt, so hatte man ihnen gesagt, sollte sie über die ersten paar Tage ihrer Reise bringen. Auf ihrem Weg flussaufwärts würden sie von einem Kahn begleitet werden, auf dem einige Berufsjäger fuhren, die auch Erfahrung darin hatten, unvertrautes Gelände zu erforschen. Zudem transportierte das Boot zusätzliche Verpflegung sowohl für die Menschen als auch für die Drachen. Allerdings sollte sich jeder Drachenhüter bemühen, sich selbst sowie seinen Drachen so bald wie möglich aus eigener Kraft zu versorgen. Thymara war skeptisch. Ihre künftigen Gefährten sahen nicht so aus, als hätten sie sich jemals selbst ernähren, geschweige denn, Nahrung für einen Drachen beschaffen müssen. Sie bekam ein mulmiges Gefühl im Bauch.
»Sie haben uns gesagt, dass wir für die Drachen Futter finden sollen. Aber in der Tasche ist nichts, was man zur Jagd gebrauchen könnte«, stellte Tats besorgt fest.
Ein Mädchen von ungefähr zwölf Jahren rückte etwas näher an ihr Grüppchen heran. »Ich habe gehört, dass sie uns Angelzeug und einen Speer geben, bevor wir aufbrechen«, sagte sie schüchtern.
Thymara lächelte sie an. Dem dünnen Mädchen hingen blonde Haarsträhnen von einem mit rosafarbenen Schuppen überzogenen Kopf. Ihre Augen waren kupferbraun und würden wahrscheinlich bald eine reine Kupferfarbe annehmen. Ihr Mund war beinahe lippenlos. Thymara warf einen Blick auf die Hände des Mädchens. Vollkommen normale Fingernägel. Unvermittelt überkam sie Mitleid. Wahrscheinlich hatte das Mädchen als Neugeborenes nahezu normal ausgesehen und sich erst verändert, als sie in die Pubertät gekommen war. Das kam zuweilen vor, und Thymara war dankbar, dass sie schon immer gewusst hatte, was sie war, denn sie hatte sich nie dem Traum hingegeben, einmal zu einer Ehefrau und Mutter heranzuwachsen. Dieses Mädchen jedoch hatte solche Träume vermutlich gehabt. »Ich heiße Thymara, und das ist Tats. Der da ist Rapskal. Wie heißt du?«
»Sylve.« Das Mädchen sah argwöhnisch zu Rapskal hinüber, der sie angrinste. Dann rückte sie näher an Thymara heran und fragte leise: »Sind wir die einzigen Mädchen in der Gruppe?«
»Ich meinte, vorhin noch ein anderes Mädchen gesehen zu haben. Um die fünfzehn, mit blonden Haaren.«
»Ich glaube, du hast meine Schwester gesehen. Sie hat mich begleitet, um mir Mut zu machen.« Sylve räusperte sich.
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