Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Exemplare waren so dick wie Wachtürme und ließen die anderen Giganten klein aussehen. Vorhänge aus Ranken und Moosgeflecht hingen von den weit ausladenden Zweigen und verwoben die Bäume zu einer schier undurchdringlichen Wand. Unter dem Dach aus Moos und Blättern wirkte der Boden sumpfig und trostlos. Ein Ort immerwährenden Schattens und heimlicher Lichter.
Alise war an Deck gekommen, um die wenigen Stunden Tageslicht auszunutzen. Obwohl der Strom durch ein breites Sumpftal floss, wuchsen die Bäume entlang des Ufers so hoch, dass der Wald einen Horizont aus Blättern bildete. Dagegen wirkte der Streifen blauen Himmels wie ein schmales Band, auch wenn er so breit wie der Fluss selbst war.
Dass Sedric sich zu ihr gesellt hatte, überraschte sie. Seit sie Bingtown verlassen hatten, hatte Alise ihn kaum gesehen. Selbst die Mahlzeiten hatte er in seiner Kabine eingenommen. Während ihrer bisherigen Reise war er die meiste Zeit ruhig und zurückgezogen gewesen, gedrückter und ernster, als sie ihn je erlebt hatte. Offensichtlich behagte ihm seine Aufgabe ganz und gar nicht. Als sie erfahren hatte, welchen Begleiter ihr Gatte für sie erkoren hatte, war sie verblüfft gewesen. Sie konnte in der Entscheidung keinen Sinn erkennen. Wenn es ihm um ihren guten Ruf ging, warum schickte er sie dann mit seinem Sekretär als Anstandsdame auf die Reise? Wie zu so vielen anderen Dingen ihres Lebens, die Hest willkürlich festlegte, hatte er sich auch hierzu zu keiner Erklärung herabgelassen.
»Ich stelle dir Sedric für deinen Regenwildwahnwitz zur Verfügung«, hatte er barsch verkündet, als er am Morgen nach ihrem Streit ins Frühstückszimmer gekommen war. Im Stehen hatte er sich Tee eingeschenkt und etwas zu essen genommen. »Mach mit ihm, was du willst.« Als Sedric ins Zimmer getreten war, hatte Hest ihn keines Blickes gewürdigt. Stattdessen hatte er hinzugefügt: »Er soll all deine Anweisungen befolgen. Dich beschützen. Dich unterhalten. Was du willst. Ich bin sicher, er wird ganz reizend sein.« Die letzten Worte hatte er mit einer solchen Verachtung gesprochen, dass sie zusammengezuckt war.
Und dann war Hest hinausgegangen. Verwirrt hatte sie sich Sedric zugewandt und hatte mit Entsetzen gesehen, wie niedergeschlagen dieser wirkte. Er stocherte in seinem Essen herum, und alle ihre Bemühungen um eine Unterhaltung waren vergeblich gewesen.
Hest hatte nicht einmal auf ihre Abreise gewartet, bevor er selbst eine neue Handelsfahrt in Angriff nahm. Er hatte das Haus mit Geschäftigkeit erfüllt und zwei seiner jüngeren Freunde eingeladen, ihn zu begleiten. In den Tagen vor seiner Abreise hatte er Sedric pausenlos auf Botengänge geschickt, um Reisepapiere zu besorgen, eine beim Schneider bestellte neue Garderobe abzuholen und eine Ladung exzellenter Weine und Speisen zusammenzustellen, die er als Verpflegung mitnehmen wollte. Da Sedric offenkundig unglücklich mit seiner Lage war, tat er Alise leid, und um ihm etwas Ruhe zu gönnen, hatte sie bei ihren eigenen Vorbereitungen so weit wie möglich auf seine Hilfe verzichtet. Doch trotz allem bereute sie ihre Entscheidung nicht, diese Reise anzutreten. Und so rätselhaft Hests Entschluss, Sedric zu ihrem Begleiter zu wählen, auch war, so sehr freute sie sich darüber. Die Vorstellung, ihren alten Freund ganz für sich alleine zu haben, während sie auf das Abenteuer auszog, Drachen zu sehen, hatte sie mit ausgelassener Vorfreude erfüllt. Und sie hatte gehofft, ihn ähnlich begeistert zu erleben.
Doch in den Wochen vor der Abfahrt und vor allem, nachdem Hest abgereist war, war Sedric bedrückt und ihr gegenüber sogar ungewöhnlich kratzbürstig gewesen. Zwar hatte er Hests Weisung befolgt und war jeden Morgen pünktlich zum Frühstück erschienen, um den Stand der Reisevorbereitungen zu vermelden und neue Aufgaben entgegenzunehmen. Dabei sprachen sie miteinander, unterhielten sich aber nicht. Wenige Tage vor ihrer Abreise hatte er um etwas Zeit für sich gebeten, um mit einem von Hests chalcedanischen Handelspartnern, der unerwartet in Bingtown aufgetaucht war, zu speisen. In der Hoffnung, es würde sein Gemüt etwas aufhellen, hatte Alise ihm den Abend gerne freigegeben. Aber am nächsten Morgen, als sie ihn fragte, ob das Treffen mit Begasti Cored gut verlaufen sei, hatte er schnell das Thema gewechselt, über Einzelheiten ihrer eigenen Reise gesprochen und sich mit einem Dutzend Kleinigkeiten beschäftigt.
Auch als sie an Bord Paragons gegangen waren, hatte
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