Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
und sich einen Weg in die Erde suchten. So schuf jeder Baum rund um sein Wurzelwerk eine Art »Lattenzaun«, und er war fest im Erdreich verankert. In der Gegend von Cassarick war der Wald um einiges dichter als in der Nähe von Trehaug, und die horizontalen Äste der Lattenbäume waren robuster als die, die Thymara von zu Hause gewohnt war. Sie machten das Klettern von Baum zu Baum fast zu einem Kinderspiel. Heute hatte sie sich auf das von keiner Wurzel abgestützte Ende eines Astes gewagt, um ungehinderte Sicht auf das Spektakel unter ihr zu erhalten.
Direkt vor ihr, auf der anderen Seite des schlammigen Uferabschnitts, bot sich ihr das Panorama des milchig dahinfließenden flachen Wassers. Auf der anderen Flussseite war nebelhaft der ferne, dichte Wald zu erkennen. Dort hatte der Sommer eine Million Grüntöne hervorgebracht. Das Geräusch des Stroms und der von den Kieseln aufgeschäumten, undurchsichtigen Wellen war die niemals endende Musik ihres Lebens. Auf Thymaras Seite des Flusses und nahe am Ufer war das Wasser flach, und die Flut wurde von Kieseln und Sandbänken abgebremst, bis sie das Land unter ihrem Baum erreichte. Im letzten Winter war dieser Uferabschnitt hastig mit hölzernen Schotten verstärkt worden. Zwar waren die Winterfluten nicht gerade behutsam mit ihnen umgegangen, aber die meisten waren noch an Ort und Stelle.
Wie Treibgut lagen die Schlangenhüllen über das mehrere Morgen große Uferareal verstreut in der Sonne. Früher war der Strand mit Büscheln struppigen Grases und dornigem Gesträuch bewachsen gewesen, doch mit der Ankunft der Schlangen im letzten Winter war die Vegetation zerstört worden. Von der Schlangenwanderung hatte Thymara nur gehört, gesehen hatte sie sie nicht. Niemand, der in den Baumstädten der Regenwildnis wohnte, hatte die Geschichten nicht gehört. Eine Herde, ein Knäuel aus mehr als hundert riesigen Schlangen war den Regenwildfluss heraufgeschwommen, begleitet von einem Lebensschiff und geführt von einer prachtvollen silbrig-blauen Drachin. Der junge Elderling Selden Vestrit hatte sie dort begrüßt und in der Heimat ihrer Vorfahren willkommen geheißen. Darüber hinaus hatte er die Regenwildleute beaufsichtigt, die den Schlangen bei der Herstellung ihrer Hüllen geholfen hatten. Den Großteil des Winters hatte er in Cassarick verbracht und sich immer wieder vergewissert, dass die Kokons der schlafenden Schlangen stets gut mit Laub und Schlamm bedeckt waren, damit sie weder der Kälte noch dem Regen oder der Sonne ausgesetzt waren. Und nach allem, was sie gehört hatte, war er auch heute wieder dabei, um Zeuge des Schlüpfens zu werden.
So sehr sie es sich wünschte, hatte sie ihn doch noch nicht gesehen. Wahrscheinlich befand er sich mitten unter den Kokons auf dem Podest, das man für die Mitglieder des Regenwildkonzils und andere wichtige Würdenträger aufgebaut hatte. Um das Podest drängten sich die Händler in ihren Roben, und die einfachen Leute besetzten die umliegenden Bäume wie ein Schwarm Zugvögel. Sie war froh, dass ihr Vater sie hierher, ans Ende der Stätte gebracht hatte. Zwar lagen hier weniger Hüllen, aber es drängten sich auch weniger Leute, die ihr die Sicht versperrten. Trotzdem wäre es schön gewesen, nahe genug am Podest zu sein, um die Musik und die Reden zu hören. Und einen leibhaftigen Elderling zu erblicken.
Wenn sie nur an ihn dachte, schwellte sich ihre Brust vor Stolz. Er stammte aus Bingtown und kam wie sie aus einer Händlerfamilie, aber die Drachin Tintaglia hatte ihn berührt, und daraufhin hatte er sich in einen Elderling verwandelt. Er war der erste Elderling, den die Menschen seiner Generation erblickt hatten. Zuvor hatte man diese Wesen nur aus Legenden und den Ausgrabungsfunden gekannt und sie mit Namen wie »Altvorderen« oder »Uralte« umschrieben. Inzwischen gab es zwei weitere Elderlinge, Seldens Schwester Malta und Reyn Khuprus aus der Regenwildnis. Thymara seufzte. Das alles war wie ein Wirklichkeit gewordenes Märchen. Seeschlangen, Drachen und Elderlinge waren an die Verwunschenen Ufer zurückgekehrt. Und ihr war es beschieden, die ersten schlüpfenden Drachen seit Menschengedenken zu sehen. Bis zum Nachmittag würden die jungen Drachen geschlüpft sein und sich bereits in die Lüfte erhoben haben.
In jeder der mattgrauen Hüllen, die, so weit Thymaras Auge reichte, das Ufer übersäten, verbarg sich etwas, was früher einmal eine Schlange gewesen war. Die Schichten aus Laub, Zweigen und Mulch, die die
Weitere Kostenlose Bücher