Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Bellin und Hennesey arbeiteten an den massiven Stocherstangen, mit denen der Kahn flussaufwärts getrieben wurde, während Swarge das Steuer übernahm. Wie durch Zauberhand wich der Kahn jeder Untiefe und jedem Baumstamm aus, der im Wasser trieb. Sie wurden Zeuge eindrucksvoller Bootsmannskunst, und Alise war voller Bewunderung. Obwohl auch Sedric die Fähigkeiten der Mannschaft schätzte, wurde er es lange vor ihr müde, die Bootsleute zu beobachten und sich darüber auszulassen. Deshalb überließ er Alise ihrem angeregten Gespräch mit dem schmuddeligen Kapitän des Kahns, ging nach achtern und suchte vergeblich nach einem ruhigen Platz, um sich auszuruhen. Schließlich sank er auf einen seiner Koffer, ein wenig beschattet von dem Kleiderschrank direkt daneben. Von der Mannschaft konnte er sich keine kultivierte Unterhaltung erhoffen. Einer der Decksgehilfen war grad so groß wie der Schrank neben ihm. Und die Frau, Bellin, hatte kaum weniger Muskeln als ihr Gatte Swarge. Dem Maat Hennesey blieb keine Zeit, um mit Passagieren zu plaudern, wofür Sedric dankbar war. Skellys Anwesenheit schockierte ihn nicht nur wegen ihres Alters, sondern auch wegen ihres Geschlechts. Auf welchem Schiff ließ man schon junge Mädchen die Arbeit eines erwachsenen Decksgehilfen verrichten? Nach einem kurzen Besuch im muffigen Deckshaus hatte er den Gedanken an einen Mittagsschlaf, mit dem er sich die endlose Fahrt verkürzen wollte, aufgegeben. Da konnte man auch gleich in einem Hundezwinger schlafen.
Jetzt allerdings war es Nacht, und überall schwirrte es von Insekten. Die Mückenschwärme und seine Müdigkeit hatten ihn schließlich doch auf die Pritsche gezwungen. Um ihn her schliefen die Matrosen im trüben Dämmerlicht. Swarge und seine Frau lagen in ihrem abgetrennten Schlafplatz. Skelly teilte ihr Bett mit dem Kater und hatte sich schützend um das orangefarbene Untier gerollt. Offenbar war Skelly die Nichte des Kapitäns. Das arme Mädchen würde das Schiff aller Wahrscheinlichkeit nach einmal erben und musste das Handwerk deshalb von Grund auf lernen. Der Maat Hennesey lag ausgestreckt auf der Pritsche, ein Arm ragte so weit darüber hinaus, dass seine Hand das Deck berührte. Die Luft war erfüllt vom Schweiß der Matrosen, dem röchelnden Schnarchen und einem gelegentlichen Grunzen, wenn sich einer im Schlaf umdrehte.
Sedric hatte die Wahl zwischen vier noch nicht belegten Pritschen gehabt. Augenscheinlich hatte Leftrin einst eine größere Mannschaft auf seinem Schiff beschäftigt. Sedric hatte sich eines der unteren Betten ausgesucht, und Skelly hatte für ihn ohne großes Murren ihre Habseligkeiten geräumt. Sie hatte ihm sogar zwei Decken auf die Matratze geworfen. Die Liegen waren schmal und kurz. Während er auf der Kante saß, versuchte er, nicht an Flöhe, Läuse oder gar noch größeres Ungeziefer zu denken. Zwar hatte die ordentlich gefaltete Decke einigermaßen sauber gewirkt, aber er hatte sie nur im Schein der Lampe gesehen. In die Geräusche der schlafenden Mannschaft mischte sich das Plätschern des Wassers draußen. Das ätzende Wasser des grauen Flusses erschien ihm nun viel näher und bedrohlicher als auf dem großen und stattlichen Lebensschiff. Der Kahn war niedriger, und selbst im Zimmer roch man den modrigen Geruch des Wassers und des Dschungels ringsum.
Als die Nacht hereinbrach und die Dunkelheit sich wie ein zweiter Fluss über das Wasser ergoss, hatten die Matrosen den Kahn ins flache Ufergewässer gestakt und an den Bäumen festgebunden. Sie hatten dicke, schwere Taue dafür genommen, und die Knoten würden bestimmt halten. Doch der Fluss gierte nach dem Kahn und zog gefräßig an seinem Rumpf, sodass das Schiff sanft schaukelte und ächzend an den Leinen zerrte, mit denen es festgezurrt war. Hin und wieder ging ein Rucken durch den Kahn, als hätte er die Füße in den Grund gestemmt, um sich dem Sog der Strömung zu widersetzen. Sedric fragte sich, was passieren würde, wenn sich der Knoten lösen würde. Dann fiel ihm ein, dass ein Mann Wache hielt. Der große Eider würde die halbe Nacht wach bleiben und ein Auge auf alles haben. Anschließend würde er Hennesey wecken, der ihn ablösen sollte. Und als Sedric endlich aufgegeben und beschlossen hatte, sich doch in dem unappetitlichen Deckshaus zur Ruhe zu legen, war auch der Kapitän noch immer an Deck gewesen und hatte Pfeife geraucht. Kurz hatte Sedric erwogen, auf dem Deck unter freiem Himmel zu schlafen. Immerhin war die Nacht mild
Weitere Kostenlose Bücher