Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
sie davon geträumt, dass er, der große Bruder ihrer besten Freundin, mehr als nur freundlich zu ihr wäre! Sie hatte ihrer beiden eng verschlungene Initialen auf ihre Unterrichtsblätter gemalt und hatte ihm einen seiner Reithandschuhe entwendet. Dieser hatte nach ihm geduftet, und sie wurde rot und musste lachen, wenn sie daran dachte, wie sie ihn unter ihrem Kissen aufbewahrt und jeden Abend vor dem Einschlafen daran gerochen hatte. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was aus dem Handschuh geworden war oder wann sie den Traum aufgegeben hatte, dass er sich eines Tages zu ihr umdrehen und ihr gestehen würde, dass er sie liebte. War es denkbar, dass er einst etwas für sie empfunden hatte? War es möglich, dass er im tiefsten Grunde seines Herzens noch immer etwas für sie empfand?
Oh, es war ein törichter Wunschtraum, so töricht wie ihre schüchterne Tändelei mit dem Kapitän. Töricht und absolut köstlich. Und was konnte es schaden, wenn sie sich für einen Tag einbildete, dass sich zwei derart unterschiedliche Männer zu ihr hingezogen fühlten? Schon seit Jahren hatte Hest dafür gesorgt, dass sie sich hausbacken, dumm und langweilig vorkam. Im Licht und der Wärme von Leftrins Bewunderung und Sedrics Beschützerinstinkt fühlte sie sich wie eine Knospe, die von Neuem erblüht.
In ihrer kurzen Zeit auf Teermann war ihr Abenteuer zu dem geworden, was sie sich vorgestellt hatte. Der große Kahn war so flach, dass man meinte, gerade mal eine Handbreit über dem Wasser zu sitzen. Dadurch wirkten die Bäume ringsum noch viel höher. Auf dem Schiff war sie den teils gefährlichen, teils harmlosen Vögeln und Flusstieren ganz nah. Oft hatte sie von Deck einen Blick auf Sumpfelche und Flussschweine, wie Leftrin sie genannt hatte, erhascht. Einmal war ein mit scharfen Zähnen bewehrter Gallator, der sich am Flussufer gesonnt hatte, ins Wasser geglitten und war eine Zeit lang neben dem Kahn her geschwommen, bis Skelly ihm mit der Stocherstange einen ordentlichen Schlag versetzt hatte, worauf das Tier mit peitschendem Schwanz zum Ufer geflüchtet war. Alise hatte mehrere Arten riesenhafter Wasservögel gesehen. Leftrin hatte sie dabei überrascht, wie sie Zeichnungen der Vögel anfertigte, und war von ihrem künstlerischen Geschick vollkommen begeistert gewesen. Daraufhin hatte er sie überredet, in ihrer Mappe zurückzublättern und ihm die bisherigen Bilder ihrer Reise zu zeigen. Bei dieser Gelegenheit hatte er weitere Rufe des Erstaunens ausgestoßen. Vor Stolz war sie rot geworden, als er auf einem der Bilder Kapitän Trell erkannte, und als er ihr die Namen einiger Regenwildpflanzen nannte, die sie skizziert hatte, schrieb sie diese zu seinem größten Vergnügen unter die entsprechenden Zeichnungen. »Wie sehr es mich freut, einer Gelehrten wie Euch behilflich sein zu können, meine Dame!«, hatte er mit einem solchen Ernst gesagt, dass sie errötet war.
Eine Sache, die er ihr mitgeteilt hatte, machte sie allerdings betroffen. Er war zu ihr auf das Dach des Deckshauses gestiegen, wo sie sich auf ihrem Stuhl gegen die Kälte in eine Decke gewickelt hatte. Um sich vor Insekten zu schützen, hatte sie das Netz an ihrem Hut herabgelassen. »Stört es Euch, wenn ich mich einen Moment dazusetze?« Die höfliche, vorsichtig vorgetragene Frage wollte nicht zu seiner sonst so ruppigen Art passen. »Mir ist eingefallen, dass es einige Dinge gibt, die Ihr wissen solltet.«
»Gewiss dürft Ihr Euch dazusetzen! Dies ist doch Euer Schiff, oder nicht?«, gab sie zurück. Sein verschwörerischer Tonfall machte sie sogleich neugierig.
Ohne weiteres Aufhebens schnappte er sich einen Stuhl und klappte ihn auf. Die beiläufige Leichtigkeit seiner Bewegungen versetzte sie in Erstaunen. »Nun ja, es sieht folgendermaßen aus«, fing er unverzüglich an. »Das Konzil von Cassarick hat einen Plan verabschiedet, der die Drachen betrifft. Die Drachen haben zugestimmt, aber aus verschiedenen Gründen wurde die Sache nicht öffentlich verbreitet. Da ich jedoch sehe, wie wichtig es für Euch ist, die Drachen dort anzutreffen und mit ihnen zu reden, habe ich beschlossen, Euch einzuweihen, allerdings unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Tatsächlich bereitet sich das Konzil nämlich darauf vor, die Drachen von hier wegzubringen. Und nach allem, was ich gehört habe, soll das sehr bald geschehen. Sicher jedoch im Verlauf eines Monats.«
»Sie wegbringen? Aber wie? Und wohin? Warum wollen sie das tun?« Sie war entsetzt.
»Zur Frage,
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