Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
aus einem einzigen Stück schwarzem Holz gefertigt. Leftrin drückte gegen einen der Flügel, worauf er aufschwang.
Die Halle war fensterlos. Im Vorzimmer brannten Kerzen, die nach Orangenblüten dufteten. Ohne zu verweilen, durchquerte Leftrin das mit Teppichen ausgelegte Zimmer und ging durch eine weitere große, zweiflüglige Tür. Alise folgte ihm und fand sich in einem runden Saal wieder. Eine geräumige Bühne war von einem Ring ansteigender Bänke umgeben. Auf der Bühne standen ein langer Tisch aus blassem Holz und ein Dutzend schwerer Stühle. Nur die Hälfte von ihnen war im Moment besetzt. Von der Decke hingen Kugeln, die wie gelbe Glasbälle aussahen und den Raum in goldenes Licht tauchten. Der gebrochene Schein der Lampen verzerrte die Schatten. An den Wänden hingen Teppiche, die entweder von den Elderlingen stammten oder sehr gute Imitate darstellten. Alises Blick blieb daran hängen, und sie hätte am liebsten um etwas Zeit gebeten, sie gründlich zu begutachten.
Doch ihr unvermittelter Eintritt hatte die sechs Regenwildleute auf den Stühlen aufgeschreckt. Obwohl es noch früh war, saßen sie bereits in ihren Amtstrachten am Tisch. Jeder trug eine andere Farbe, die anzeigte, aus welcher der einstigen Siedlerfamilien er stammte. Alise war keine von ihnen bekannt. Die Händlerfamilien von Bingtown hatten andere Vorfahren als die der Regenwildnis, auch wenn es schon seit Jahren häufig zu Mischehen kam. In der Mitte des Tischs saß eine Frau mit faltigem Gesicht und kurzen grauen Haaren, die sie anstarrte. »Dies ist eine nicht öffentliche Versammlung«, verkündete sie. »Wenn Ihr wegen Handelsangelegenheiten hier seid, müsst Ihr einen Termin ausmachen und später wiederkommen.«
»Ich glaube, dass wir zu dieser Versammlung eingeladen sind«, gab Leftrin zurück. Alise entging nicht, dass er »wir« gesagt hatte, und ihr Herz machte einen Satz. Er würde sein Möglichstes tun, damit sie hierbleiben konnte und erfuhr, was mit den Drachen geschehen sollte. »Ich bin Kapitän Leftrin von dem Prahm Teermann . Als ich letzte Nacht anlegte, wurde mir gesagt, ich solle heute früh ›so bald wie möglich‹ herkommen. Ich nehme an, es geht um die Drachen, die flussaufwärts gebracht werden müssen. Aber sollte ich mich irren …«
Er ließ die Worte im Raum schweben, und die Frau wischte ihren vorherigen Einspruch mit einem Handwedeln beiseite. Doch bevor sie etwas sagen konnte, wurde hinter Alise und Leftrin die Tür laut und wütend zugeschlagen. Alise drehte sich erschrocken um und schnappte überrascht nach Luft. Vor ihr stand eine Elderlingsfrau, ganz in Silber und Blau gekleidet. Im goldenen Lampenlicht schimmerten ihre Augen metallisch, und ihr Gesicht war wie in Stein gemeißelter Zorn. »Dies ist keine rechtmäßige Versammlung, Kapitän Leftrin. Wie Ihr seht, sind nicht genügend Versammlungsmitglieder anwesend, um Beschlüsse zu treffen.«
»Im Gegenteil, Malta Khuprus.« Die Frau, die auch bisher für das Konzil gesprochen hatte, hielt ein Stück Papier in die Höhe. »Ich habe Briefe zweier Konzilsmitglieder, die zu beschäftigt sind, um der Versammlung beizuwohnen. Darin übertragen sie mir die Vollmacht, in ihrem Namen zu handeln. Ich kann nach Belieben über ihre Stimmen entscheiden, und wenn wir alle dieselbe Entscheidung unterstützen, haben wir eine Mehrheit, ganz gleich, ob die anderen nun mitwählen oder nicht.«
»Doch ich wette, dass Ihr keinen derartigen Brief von meinem Bruder Selden Vestrit bekommen habt, Händlerin Polsk. Und da er die Interessen der Drachin Tintaglia vertritt, ist mir schleierhaft, wie Ihr in seiner Abwesenheit irgendwelche bindenden Entscheidungen fällen wollt.«
»Er hat nur eine Stimme. Ob er mit unserer Entscheidung nun einverstanden wäre oder nicht, das würde das Wahlergebnis nicht beeinflussen.«
»Er repräsentiert Tintaglias Anliegen. Er spricht für die Drachen. Wie könnt Ihr endgültige Beschlüsse über deren Schicksal verabschieden, ohne vorher seinen Rat eingeholt zu haben? Und die schlichte Wahrheit ist, dass Ihr das nicht könnt!«
Beim Sprechen ging die Elderlingsfrau an Alise und Leftrin vorbei. Alise wollte sie nicht anstarren, konnte aber nicht anders. Malta Vestrits Geschichte war allgemein bekannt. Sie war in ein missglücktes Komplott verwickelt gewesen, den Satrapen von Jamaillia zu entführen. Zusammen mit ihm war sie von Piraten gefangen genommen worden, und am Ende hatte sie maßgeblich am Frieden zwischen Jamaillia und den
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