Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
dritten war er getürmt. Er war auf seine Tat nicht stolz gewesen, sondern hatte lediglich Genugtuung darüber empfunden, dass er offenbar fähig war, zu überleben. Auch das war eine Entscheidung gewesen, die er niemals bereut hatte.
Wenn er nun über einen versäumten Mord nachdachte, war dies nur ein Gedankenspiel. Hätte er den Kaufmann getötet, würde er heute nicht mit dieser Schriftrolle in der Hand dastehen, würde nicht rätseln, wer von den Leuten, die ihn auf dieser Reise begleiteten, ein Verräter war, und er bräuchte nicht zu grübeln, ob Sinad Arich beim Zustandekommen dieses hochwillkommenen Vertrags seine Finger im Spiel gehabt hatte. Und er bräuchte sich nicht den Kopf zu zerbrechen, weil er vielleicht etwas tun musste, was Alise enttäuschen würde. Bei diesem Gedanken zeriss er das Schreiben in tausend kleine Fetzen und warf sie zum Fenster hinaus.
»Zeit zum Aufstehen!«
»Steht auf, packt eure Sachen, weckt eure Drachen!«
»Steht auf. Zeit aufzubrechen.«
Als Thymara die Augen aufschlug, war der Morgen noch grau und fern. Sie gähnte und wünschte sich, sie hätte sich nie auf all das eingelassen. Um sich herum hörte sie die anderen Hüter grummeln, die soeben erwachten. Geweckt wurden sie von den Männern, die sie aus Trehaug hierher begleitet hatten. Deren Aufgaben würden heute enden, und offenbar konnten sie es kaum erwarten, es hinter sich zu bringen. Je eher die Hüter aufstanden, ihre Drachen weckten und zur ersten Tagesetappe aufbrachen, desto eher konnten die Männer wieder nach Hause zurückkehren.
Thymara gähnte noch einmal. Wenn sie etwas essen wollte, bevor es losging, sollte sie vermutlich gleich aufstehen. Sie hatte nicht geahnt, wie viel Jungs in Windeseile in sich hineinstopfen konnten, bis sie einen gemeinsamen Kochtopf mit ihnen hatte teilen müssen. Langsam setzte sie sich auf und hielt die Decke eng um den Leib geschlungen, doch die frostige Morgenluft kroch bereits zu ihr durch.
»Bist du auf?«, fragte Rapskal. Seit sie von Trehaug aufgebrochen waren, schlief er so dicht bei ihr, wie sie es gestattete. Eines Morgens hatte sie feststellen müssen, dass er sich an ihren Rücken geschmiegt und die Arme um ihre Hüfte geschlungen hatte. Sein Kopf hatte an ihrer Schulter geruht. Die Wärme war zwar angenehm gewesen, nicht aber das allgemeine Gekicher. Kase und Boxter hatten sie unbarmherzig damit aufgezogen. Darauf hatte Rapskal mit einem entwaffnenden, aber unsicheren Grinsen reagiert, und Thymara vermutete, dass er die Sticheleien nicht richtig begriff. Sie hatte die anderen bewusst ignoriert und sich eingeredet, dass Rapskal in seinem Bedürfnis nach Nähe mehr einem Kätzchen ähnelte als dass er amouröse Absichten hatte. Zwischen ihnen gab es keinerlei Anziehung. Und falls es sie gegeben hätte, hätte Thymara ihr nicht nachgegeben. Was verboten war, war verboten. Das war ihr bewusst. Das war allen bewusst.
Doch sie fragte sich, ob sie es alle so bedingungslos akzeptierten wie sie.
Greft hatte deutlich durchblicken lassen, dass er es nicht tat. Sonst hätte er nicht gemeint, er würde seine eigenen Gesetze schaffen. Und Jerd? Würde sie sich an die Regeln halten, mit denen sie alle aufgewachsen waren?
Während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb, versuchte sie nicht darauf zu achten, wer neben wem schlief und was das zu bedeuten hatte. Schließlich musste jeder irgendwo schlafen. Wenn Jerd ihre Decke ständig neben Tats ausbreitete, mochte das nicht mehr heißen, als dass sie sich neben ihm sicher fühlte. Und dass Greft ständig einen Grund suchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln, während die anderen ihre Schlafplätze vorbereiteten, bedeutete womöglich nur, dass er sie für intelligent hielt.
Thymara sah zu ihm hinüber. Wie üblich war er als einer der Ersten aufgestanden und rollte bereits seine Decke zusammen. Er schlief ohne Hemd, und sie hatte erstaunt festgestellt, dass viele Jungs das taten. Jerd wiederum, die etliche Brüder hatte, hatte sich überrascht gezeigt, dass Thymara das nicht gewusst hatte. Thymara konnte sich nicht erinnern, ihren Vater einmal mit entblößtem Oberkörper gesehen zu haben. Jetzt sah sie, wie sich Greft den geschuppten Rücken kratzte. Sie kannte dieses unerbittliche Jucken, wenn die Schuppen dicker und härter wurden. Er beugte sich vornüber, damit die Schuppen entlang seiner Wirbelsäule etwas abstanden und er sich darunter kratzen konnte. Sollte es ihm peinlich sein, wie stark er von der Regenwildnis
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