Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
gerade erst entdeckt hatte, dass Frauen auf wunderbare Weise anders als Männer waren. Das Schwindelgefühl, das er in seiner Jugend verpasst hatte, erfasste ihn nun in einem freudigen Taumel und durchdrang jeden Augenblick seines Tages. Wenn er an ihr sommersprossiges Gesicht dachte, musste er lächeln. Geringelte Haarlocken, so rot wie eine Hummerbrust, umrahmten ihre Stirn, wenn sie sich aus den Haarspangen lösten. War sie erschrocken oder ängstlich und griff nach seinem Arm, dann fühlte er sich größer und stärker als je zuvor in seinem Leben.
Doch sie hatten keine Zukunft. Diese Gewissheit trug er in jeder Faser seines sich verzehrenden, sehnenden Herzens. Wenn er daran dachte, wie es enden musste, überkam ihn Verzweiflung. Doch heute Morgen, kurz bevor er sie auf eine Reise den Fluss hinauf mitnehmen würde, die Wochen, vielleicht sogar Monate dauern würde, war er glücklich und aufgeregt. Seine Stimmung übertrug sich auf das Schiff selbst und auf seine Mannschaft. Teermann würde die Fahrt gefallen. Noch immer hielt Leftrin die Expedition für ein lächerliches Unterfangen, eine Reise ins Nirgendwo mit einer Herde störrischer Drachen. Doch die Bezahlung, die ihm das Konzil in Aussicht stellte, war ausgezeichnet, und die Möglichkeit, sein Schiff und seine Mannschaft über die Grenzen der erforschten Gebiete hinauszubringen, war etwas, von dem er seit jeher geträumt hatte. Dass ihm eine Frau wie Alise nicht nur über den Weg gelaufen war, sondern ihn auch noch auf dieser Reise begleiten würde, war ein schier unvorstellbares Glück.
Er sog noch einmal ihren Duft ein, umarmte sein Kissen und setzte sich auf. Es war Zeit für sein Tagwerk. Eigentlich wäre er gern früh aufgebrochen, aber er wartete noch auf die Lieferung einiger spezieller Ausrüstungsstücke, mit denen er hoffte, Alise besser unterbringen zu können. Er kratzte sich an der Brust, wählte eines der Hemden, die an den Haken neben seiner Koje hingen, und zog es an. Er hatte noch die Hosen von gestern an. Barfuß tappte er aus seiner Kabine und in die Küche. Dort schürte er die Ofenglut und machte den Kaffee vom Vortag warm. Dann wischte er einen Becher aus und setzte sich an den Tisch. Durch das kleine Fenster des Deckshauses sah er hinaus, wo sich die Welt zögerlich an den Tag herantastete. Die tiefen Schatten des Waldes tauchten Schiff und Ufer noch immer in Dunkelheit.
Er spürte ein leichtes Beben, gefolgt von einem alarmierenden Prickeln. Jemand war an Deck, jemand, den Teermann nicht kannte. Leise erhob sich Leftrin. Aus einer Werkzeugkiste nahm er ein großes Schlossholz, das man zum Reparieren und Spleißen der dicksten Taue verwendete. Er hielt es in der Hand und lächelte. Lautlos wie eine Katze ging er zur Tür. Als er sie aufschob, strömte die kühle Morgenluft herein. In den Baumkronen sangen die Vögel. Weiter unten waren die Fledermäuse noch immer auf dem Heimweg in ihre Nester. Leftrin trat aufs Deck hinaus und drehte lautlos eine Runde.
Er entdeckte niemanden, doch als er wieder an der Tür des Deckshauses anlangte, lag dort eine kleine Schriftrolle. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er sich bückte, um sie aufzuheben. Das Papier war dick und weich. Es roch nach einem fremden Land, nach bitteren Gewürzen. Er ging damit in seine Kabine und schloss die Tür hinter sich. Das Schreiben war mit schlichtem braunem Wachs versiegelt, in das kein Stempel eingedrückt worden war. Nachdem er es aufgebrochen und das Papier aufgerollt hatte, las er im grauen Dämmerlicht, das durch das kleine Fenster hereindrang.
»Es gibt keine Zufälle. Ich habe Euch in Position gebracht. Stellt dem Mann, den ich dorthin geschickt habe, Eure Hilfe zur Verfügung. Ihr werdet ihn bald genug erkennen, und Ihr wisst, was er sucht. Bei dieser Sache geht es um ein Vermögen und das Leben meiner Familie. Wenn alles glattgeht, werden wir den Reichtum mit Euch teilen. Wenn nicht, wird meine Familie nicht die einzige bleiben, die Grund zur Trauer hat.«
Das Schreiben war nicht unterzeichnet, aber das war auch nicht nötig. Sinad Arich. Vor Monaten hatte Leftrin ihn als Passagier nach Trehaug mitgenommen. Kaum hatte er am Hafen angelegt, war der chalcedanische Kaufmann verschwunden. Nicht einmal um eine Rückreisemöglichkeit hatte er gebeten. Als Teermann zwei Tage später beladen gewesen war und Leftrin noch immer nichts von ihm gehört hatte, waren sie aufgebrochen. An Bord waren nur wenige Zeugnisse der Anwesenheit des Fremden
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