Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
machen?«
Der Drache drehte ihr den Kopf zu. Ihm hing ein halber Kadaver aus dem Maul, sie konnte aber nicht mehr erkennen, was für ein Tier es war. Es stank jedoch grauenhaft, und sie glaubte nicht, dass es gut für ihn war. Doch bevor sie ihn davor warnen konnte, warf er den Kopf zurück, öffnete das Maul und ließ es in seinem Rachen verschwinden. Ihr kam die Galle hoch. Viele Tiere fraßen Aas, rief sie sich streng ins Gedächtnis. Sie durfte sich davon nicht erschrecken lassen.
Wieder sah sie der Drache an. Seine Augen waren blau, eine Mischung aus Himmelblau und dem Blau des Immergrüns, die langsam kreisten, während er sie anstarrte. Er stieß ein fragendes Knurren aus, doch sie verstand keine Worte. Sie bemühte sich, in seinem Blick einen Funken Intelligenz auszumachen, etwas mehr als nur die reine Wahrnehmung ihrer Anwesenheit. »Silberdrache, darf ich dir mit deiner Verletzung helfen?«, fragte sie noch einmal.
Er senkte den Kopf, rieb sich die Schnauze am Vorderlauf, um ein Fetzen der Eingeweide loszuwerden, der ihm aus dem Mundwinkel hing. Schnaubend kratzte er sich mit der Klaue an den Nüstern, und mit Entsetzen musste Thymara feststellen, dass Nase und Ohren mit festgebissenen Schmarotzern überwuchert waren. Von denen müsste sie ihn auch befreien. Doch erst der Schwanz, ermahnte sie sich streng. Als er das Maul aufsperrte, kam eine lange Reihe blitzender, spitzer Zähne zum Vorschein. Er wirkte ruhig, sogar ahnungslos, doch wenn sie ihm wehtun und ihn reizen würde, konnten diese Zähne ihr Ende bedeuten.
»Ich fange jetzt an«, erklärte sie dem Drachen und ihren Gefährten. Mit einiger Überwindung wandte sie sich zu den beiden um und fügte hinzu: »Macht euch bereit. Er reagiert auf nichts, was ich ihm sage. Mir scheint, dass er nicht intelligenter als ein Tier ist. Wenn ich mir seinen Schwanz anschaue, kann man nicht wissen, was er macht. Es könnte aber sein, dass er mich angreift. Oder uns alle.«
Sedric wirkte einigermaßen entmutigt, während Alise entschlossen die Zähne bleckte. »Wir müssen etwas für ihn tun«, sagte sie.
Thymara tauchte den Lumpen ins Wasser und wrang ihn über dem Riss aus, sodass etliche Tropfen in die Wunde troffen und in einem schmutzigen Rinnsal am Schwanz hinunterliefen. Das Wasser scheuchte ein paar Maden auf und vertrieb eine Wolke von großen und kleinen Insekten, die kurz herumschwirrten und sich dann wieder auf der Wunde niederlassen wollten. Damit war zwar nur etwas oberflächlicher Schmutz beseitigt, aber immerhin hatte der Drache noch nicht nach ihr gebissen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und drückte den Lumpen sacht auf den Riss. Rings um die Verletzung zuckten die Muskeln, aber der Drache murrte nicht. Dann säuberte sie ringsum vorsichtig die Haut, wischte eine Schicht Schmutz und Insekten weg und legte auch einen Streifen im Zentrum der Wunde offen. Erneut tauchte sie den Lumpen in den Eimer, wusch ihn und wrang ihn aus. Diesmal wandte sie etwas mehr Druck an. Nachdem sie eine Schorfkruste gelöst hatte, rann eine stinkende Flüssigkeit aus der Wunde.
Da stieß der Drache ein Schnauben aus und drehte den Kopf, um nachzusehen, was sie da tat. Als sein Kopf auf sie zuschoss, glaubte Thymara, ihr letztes Stündlein habe geschlagen. Der Schreck raubte ihr sogar den Atem zum Schreien.
Doch der Drache schnupperte nur an der nässenden Wunde. Er drückte mit der Schnauze auf die Schwellung, sodass der Eiter herausquoll. Das tat er einige Augenblicke; beginnend am oberen Ende des Risses wanderte er mit der Schnauze nach unten. Dabei entwich ein furchtbarer Gestank, und die Fliegen schwirrten aufgeregt umher. Thymara versuchte, so wenig wie möglich durch die Nase zu atmen, und drückte die Nasenlöcher mit dem Handrücken zu. »Wenigstens bemüht er sich, uns zu helfen«, sagte sie durch zusammengebissene Zähne.
Unvermittelt brach der Drache sein Werk ab und wandte sich wieder dem Futter zu. Thymara nutzte die Gelegenheit, befeuchtete den Lumpen und wischte den Eiter aus der Wunde. Noch dreimal wusch sie den Lappen im Eimer aus, bevor das Wasser ebenso abstoßend war wie der Eiter, den sie wegwischte.
»Hier. Nimm das.«
Mit grimmigem Gesichtsausdruck hielt Sedric ihr ein dünnes Messer hin. Sie starrte es ratlos an, denn sie hätte jetzt mit einer Salbe oder mit Verbandszeug gerechnet. »Wozu?«, fragte sie.
»Du musst das wilde Fleisch wegschneiden. Dann müssen wir es mit einer Kompresse zusammenhalten. Vielleicht sogar nähen. Sonst
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