Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
wird es nicht vernünftig verheilen.«
»Das wilde Fleisch?«
»Dieses geschwollene, vernarbte Zeug an den Wundrändern. Das musst du wegschneiden, damit du es verbinden kannst und ein frischer Schnitt auf dem anderen liegt. Nur so kann es wieder zusammenwachsen.«
»Dem Drachen Fleisch abschneiden?«
»Das muss sein. Schau es dir an. Es ist ganz ausgetrocknet und dick. Das ist bereits abgestorben, wirklich. So kann es nicht mehr verheilen.«
Sie starrte darauf und schluckte. Er hatte recht. In der offenen Hand, auf einem frischen, gefalteten Tuch hielt er ihr das blitzende Messer hin.
»Ich weiß nicht, wie man das macht«, gestand sie.
»Ich vermute, das weiß keiner von uns. Aber wir wissen, dass es getan werden muss.«
Sie nahm das Messer und schloss fest die Finger um seinen Griff. Dann legte sie die freie Hand flach auf den Drachenschwanz. »Und los«, warnte sie die anderen und setzte die Klinge behutsam an dem wulstigen Wundrand an. Das Messer war ungeheuer scharf. Mühelos glitt es durch das Fleisch. Sie beobachtete, wie sich ihre Hand bewegte und die verkrustete Haut am Rand des Risses abschälte. Sie löste sich wie die verschrumpelte Schale einer getrockneten Frucht und war mit Schmutz und Schuppen verwachsen. Das Messer förderte das dunkelrote Fleisch darunter zutage. Langsam begannen glänzende, schwere Blutstropfen hinabzurinnen, doch der Drache schnüffelte weiterhin im Futter herum, als würde er es nicht spüren.
»Genau so«, sagte Sedric mit leiser, aufgeregter Stimme. »So ist es gut. Schneide noch diesen Wulst ab, und ich nehme ihn weg.«
Sie folgte seiner Anweisung und bemerkte kaum, dass er das Stück mit behandschuhten Fingern entfernte. Alise schwieg. Entweder sie sah ihr gebannt zu, oder sie sah angestrengt weg. Thymara hatte keine Zeit, zu ihr zu blicken und es herauszufinden. Eine Seite der Wunde hatte sie von dem verkrusteten Fleisch befreit. Jetzt holte sie tief Luft, riss sich noch einmal zusammen und setzte die Klinge auf der anderen Seite an.
Da wanderte ein Zittern durch den Drachenleib. Mit der rasiermesserscharfen Klinge am verhornten Rand der Wunde erstarrte sie. Er drehte ihr nicht den Kopf zu, sondern ließ ein tiefes Zischen hören. »Kämpfen.« Das Wort drang kaum an ihre Ohren, und er hatte es in einem kindlichen, unbekümmerten Tonfall geäußert.
Leise Angst umspielte das Wort, und Thymara fragte sich, ob sie sich das nur eingebildet hatte.
»Kämpfen?«, fragte Alise ihn sanft. »Gegen was kämpfen?«
»Was?«, fragte Sedric verwirrt.
»Kämpfen … zusammen, kämpfen. Nein. Nein.« Thymara verharrte vollkommen regungslos. Allmählich war sie zu der Überzeugung gelangt, dass der Silberdrache lediglich über einen tierischen Instinkt verfügte. Ihn jetzt reden zu hören, war beinahe ein Schock.
»Nicht kämpfen?«, fragte Alise, als würde sie mit einem Säugling sprechen.
»Wie kämpfen?«, fragte Sedric. »Wer kämpft?«
Die Unterbrechung kam ihr sehr ungelegen, und Thymara musste tief Luft holen, um ihn nicht anzufahren. Dann sagte sie ruhig: »Sie spricht nicht mit Euch. Der Drache hat etwas gesagt, und es ist das erste Mal, dass wir ihn reden hören. Alise versucht, mit ihm zu sprechen.« Erneut holte sie Luft, erinnerte sich an ihre Aufgabe und ließ das scharfe Messer gleichmäßig durch das harte Fleisch der Wundränder gleiten.
»Konzentriere dich auf deinen Schnitt«, riet ihr Sedric, und sie war ihm dankbar für die Unterstützung.
»Wie heißt du?«, fragte Alise behutsam. »Lieblicher Silberdrache, der du die Farbe von Mond und Sternen hast, wie lautet dein Name?« Sie sprach in einem schmeichlerischen Tonfall, und Thymara spürte, dass mit dem Drachen etwas vor sich ging. Er sagte zwar nichts, aber er schien zuzuhören.
»Was machst du da?«, fragte Tats, der plötzlich hinter ihr stand. Obwohl sie erschrak, vermochte sie die Klinge ruhig zu halten.
»Das, was ich gesagt habe. Ich kümmere mich um den Silberdrachen.«
»Mit einem Messer?«
»Ich schneide das wilde Fleisch weg, bevor wir ihn verbinden.« Es verschaffte ihr eine gewisse Genugtuung, den richtigen Begriff dafür zu kennen. Tats kauerte sich neben sie und begutachtete ihr Werk eindringlich.
»Da ist immer noch viel Eiter.«
Kurz war sie verärgert, als ob er sie getadelt hätte, aber dann bot er sich an: »Lass uns das noch einmal waschen. Ich hole frisches Wasser.«
»Bitte«, sagte sie und spürte, wie er sich entfernte. Vorsichtig löste sie mit Schuppen
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