Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
ihm die Worte nach.
»Nein! Es ist, wie wenn man seinen Arbeitern einen Teil der Ernte abgibt!«, rief er zurück. Sie holte Luft, weil sie darauf hinweisen wollte, dass es einen Unterschied war, ob man sich die Ernte einfach nahm oder dafür arbeitete, doch Tats kam ihr zuvor. Da fiel ihr auf, dass seine Hand noch immer auf ihrer Schulter lag, denn er drückte sie fester. »Nicht jetzt, Thymara. Konzentriere dich auf das Wichtigste. Wir müssen das Fleisch ins Lager schaffen, bevor es Nacht wird. Und bevor die Insekten ausschwärmen.«
»Schmarotzer!«, schnaubte sie und wandte sich ab. »Das Fleisch ist in dieser Richtung. Zumindest das, was davon übrig ist!« Wütend stapfte sie durch den Wald.
Tats hatte recht. Die kleinen, stechenden Plagegeister summten bereits um sie herum. Zu keiner Tageszeit verschwanden Stechmücken völlig aus der Regenwildnis, doch am Abend fielen sie in Horden ein. Immerhin hatten die Diebe die Spur deutlicher sichtbar gemacht. Am liebsten hätte Thymara weitergezetert, sparte sich aber den Atem.
Als sie sich dem Kadaver näherten, hörte sie, wie mehrere kleine Aasfresser davonhuschten. Die kleinsten allerdings, die Ameisen und Käfer, waren bereits zu dem Schmaus herbeigeströmt und ließen sich durch die Ankunft der Menschen nicht beirren. Sie krabbelten über den toten Elch und bildeten überall, wo das Fleisch offen lag, glänzende schwarze Teppiche.
Tats hatte an ein Beil gedacht. Die Arbeit damit war widerwärtig, denn bei jedem Hieb spritzten Blut und Fleischfetzen durch die Luft. Aber mit dem Beil und ihrem Messer hatten sie den Elch viel schneller in überschaubare Stücke zerteilt, als wenn sie sich alleine damit abgemüht hätte. Während der Arbeit grummelte sie vor sich hin, weil Greft und seine Hilfstruppen die bequemsten Teile genommen hatten. Sie dagegen mussten jetzt den Kopf abtrennen und anschließend den Torso in Brustkorb und Hüfte teilen. Als sie den Torso durchtrennten, stank es erbärmlich. Doch es war unvermeidlich, dass dabei die Gedärme ausliefen. Natürlich hätten sie den Darm auch liegen lassen können, aber Thymara wusste, dass er für die Drachen eine Delikatesse darstellte.
Tats hatte noch weitere Seile mitgebracht. Es war geradezu entnervend, wie gut vorbereitet er stets auf alles war. Sie arbeiteten rasch und sprachen wenig. Thymara versuchte, sich aufs Schneiden zu konzentrieren, und sich nicht von ihrer kochenden Wut beirren zu lassen. Tats dagegen war wie immer ruhig und überlegen und sagte nur hin und wieder etwas, was ihre Aufgabe betraf. Sylve hielt sich am Rand, half aber jedes Mal sofort mit, wenn man sie herbeirief. Sie schwieg auf eine Art und Weise, die Thymara mit der Zeit beunruhigte. Sie fragte sich, ob das Blut und der Gestank dem Mädchen zusetzten.
»Sylve, ist alles in Ordnung mit dir? Du weißt, dass manche Leute dazu einfach nicht in der Lage sind, weil es ihnen schlecht wird. Wenn du mehr Abstand brauchst, dann sag das ruhig.«
Sylve schüttelte den Kopf, wobei ihr die Haarsträhnen wild um den rosa geschuppten Kopf flogen. Sie hatte einen seltsamen Gesichtsausdruck, als ob sie nicht dabei sein wollte, es aber auch nicht fertigbrachte, zu gehen.
»Ich glaube«, stieß Tats ächzend hervor, während er die Fleischbrocken mit Seilen verschnürte, »dass der Streit mit Greft … Sylve ein wenig unsicher gemacht hat. Sie fragt sich – kannst du das bitte halten, bis ich es verknotet habe? –, ob du ihr übel nimmst, dass sie einen Teil des Fleisches bekommt.«
Das Mädchen wandte bei diesen Worten das Gesicht zur Seite. Sie war offensichtlich tief getroffen, wie Thymara schlagartig und schmerzhaft klar wurde. »Sylve! Natürlich nicht! Ich habe dich doch gebeten, mitzukommen und zu helfen. Selbstverständlich hast du dir ein Stück Fleisch verdient. Ich habe versprochen, dass ich mich um den Silberdrachen kümmere, doch jetzt hast du diese Aufgabe am Hals. Selbst wenn du nicht mitgekommen wärest, hätte ich dir ausgeholfen, wenn du mir erzählt hättest, dass dein Drache Fleisch braucht. Das weißt du doch.«
Sylve hob die blutverschmierten Hände, um sich über die Wangen zu wischen, bevor sie sich Thymara zuwandte. Thymara zuckte zusammen, denn sie wusste, dass es wehtat, wenn man weinte und das Gesicht schon so stark verschuppt war. Sylve schniefte. »Du hast sie Diebe genannt«, sagte sie mit schwerer Stimme. »Nun, aber wie unterscheide ich mich von ihnen?«
»Dadurch, dass du es nicht genommen hast, ohne vorher
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