Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Thymara sie als Partnerin, da sie sich beide bereit erklärt hatten, für den Silbernen zu tun, was in ihrer Macht stand. Kurz darauf wurde ihr mit Unbehagen bewusst, dass Sylve allein kaum eine Chance hatte, einen Drachen durchzubringen, ganz zu schweigen davon, auch noch dem verwundeten Geschöpf zu helfen. Vielleicht schuldete Thymara dem Mädchen ihre Hilfe. Dieser Gedan ke belastete sie auf unangenehme Weise, denn sie wollte nicht, dass jemand auf sie angewiesen war, und schon gar nicht, dass sie jemandem Hilfe schuldig war. Und Rapskal? Wenn er sie um Fleisch für seine kleine Heeby bitten würde, was würde sie dann antworten? Er saß jeden Tag mit ihr zusammen im Boot und verrichtete dort stets mindestens die halbe Arbeit. Was war sie ihm schuldig? Tats sprach genau im falschen Moment weiter.
»Willst du, dass ich eine Weile vorausgehe?«
»Nein«, gab sie knapp zurück. Nein, sie wollte, dass niemand etwas für sie tat. Denn was wäre sie danach schuldig?
Tats hätte sich hüten sollen, erneut das Wort zu ergreifen. Aber ein paar Augenblicke später fragte er mit leiser Stimme: »Also, was machst du, wenn wir zurück im Lager sind?«
Über dieser Frage hatte sie bereits gegrübelt. Dass er sie damit drängte, half ihr in ihrer Ratlosigkeit auch nicht weiter. »Was, wenn ich nichts machen würde? Wäre ich dann feige?«
Eine Weile schwieg er. Sie erschlug Moskitos, die ihr im Nacken saßen, und fuchtelte wild an ihren Ohren, um das hartnäckige Summen zu vertreiben. »Ich glaube, das wäre das Vernünftigste«, sagte er leise.
Thymara war überrascht, dass sich Sylve zu Wort meldete. »Wenn du was sagst, dann stellt er dich als eigennützig hin, wird alle gegen dich aufbringen. So, wie er es an dem einen Abend mit Tats gemacht hat. Hat gesagt, Tats wäre keiner von uns.« Das Mädchen ächzte und schnaufte, sodass ihre Worte stoßweise kamen. Schlagartig begriff Thymara, dass Sylve nicht das kleine Mädchen war, für das sie sie gehalten hatte. Sie war zwar jünger, aber sie hörte genau zu und dachte über das Gehörte nach. »Autsch! Blöder Ast!«, beschwerte sie sich und fuhr dann fort: »Das ist Grefts Art. Er kann sehr nett wirken, aber da ist auch etwas in ihm, das ist richtig gemein. Und er redet immer so, als wolle er für alle das Beste. Immer geht es ihm dabei um Veränderungen. Aber dann ist er wieder völlig anders, und man sieht den schlechten Teil in ihm. Er macht mir Angst. Einmal hat er sich lange mit mir unterhalten, und, na ja, manchmal glaube ich, dass es am sichersten ist, wenn man sich von ihm fernhält. Dann wieder denke ich, dass es noch viel gefährlicher sein könnte, wenn man ihn sich nicht zu seinem Freund macht.«
Außer Schnaufen, den Geräuschen ihrer Lasten, die auf dem Waldboden entlangschleiften, und den abendlichen Tierlauten war nichts zu hören. Um Thymaras Kopf schwirrten Mücken, und sie waren beinahe so unerträglich wie die Gedanken, die in ihrem Kopf kreisten. Sie fragte sich, was Greft zu Sylve gesagt hatte, als sie sich lange »unterhalten« hatten. Sie ahnte es, und das erfüllte sie mit neuerlicher Wut. Tats unterbrach das allgemeine Grübeln. »Ich habe aus denselben Gründen vor ihm Angst. Dazu kommt noch einer: Er hat einen Plan. Er ist nicht einfach nur ein Kerl, der eine miese Arbeit annimmt, weil es Geld dafür gibt oder weil es nach einem spannenden Abenteuer aussieht. Er führt bei der Sache irgendetwas anderes im Schilde.«
Thymara nickte. »Er sagt, dass er einen Ort schaffen will, an dem er die Regeln aufstellen kann.«
Wieder schleppten sie sich eine Weile schweigend und nachdenklich voran. Schließlich sagte Tats: »Regeln existieren aus einem bestimmten Grund.«
»Wir haben keine Regeln«, warf Sylve ein.
»Natürlich haben wir die!«, widersprach Thymara.
»Nein, haben wir nicht. Zu Hause hatten wir unsere Eltern. Und das Regenwildkonzil und die Händler, von denen jeder mitentscheiden konnte, was gemacht wird und was nicht. Dies alles haben wir jedoch hinter uns gelassen. Zwar haben wir Verträge unterschrieben, aber wer hat denn tatsächlich das Sagen? Kapitän Leftrin ist es nicht, denn dem untersteht nur der Kahn und nicht wir oder die Drachen. Wer also bestimmt, welche Regeln gelten? Wer setzt sie durch?«
»Die Regeln sind immer noch dieselben«, erwiderte Thymara halsstarrig, hatte aber das ungute Gefühl, dass das Mädchen die Dinge klarer erkannte als sie selbst. Wenn Greft von Veränderungen sprach, konnte er ja nur jene
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